Das Hannoveraner Modell

Kaum jemand bestreitet noch, dass die Zukunft immer unsicherer wird und Voraussagen unmöglich sind. Es setzt sich auch allmählich der Gedanke durch, dass das bloße Fortschreiben bekannter Entwicklungen äußerst unzuverlässige Prognosen und Handlungsanleitungen für das Bewältigen einer immer komplexer und unsicherer werdenden Zukunft liefert. Unternehmenslenker orientieren sich stattdessen stärker an Szenario-Techniken. Zum Beispiel spricht Wolfgang Reitzle (Linde) im Interview mit dem Manager Magazin (04/2011) davon, heute noch undenkbare Situationen von Rohstoffausfällen oder dramatischen Ölpreiserhöhungen zum Ausgangspunkt von Entwicklungsszenarien zu machen. Diese eröffnen überraschende Handlungsalternativen für die Zukunft seines Unternehmens, aber eben nicht nur eine, sondern immer mehrere.

Aber selbst bei solch einem systematischen Einsatz moderner analytischer Methoden, ergänzt um hochspezialisierte statistische Prognoseverfahren, wird der Unternehmenslenker am Ende nicht sicherer sein. Er wird heute Entscheidungen für die Zukunft treffen müssen, deren Richtigkeit völlig unklar bleibt. Und das ist ein wirkliches Dilemma! Wie soll man sein Unternehmen für die Zukunft rüsten, wenn man nicht wirklich weiß, worauf man es konkret vorbereiten soll.

Ich habe in meinem Buch „Jenseits vom schnellen Gewinn“ im vergangenen Jahr Vorschläge entwickelt, wie man mit diesem Dilemma umgehen kann. Mein Ansatz geht radikal von der grundsätzlichen Unmöglichkeit aus, sich und sein Unternehmen zukunftssicher zu machen. Ziel ist es stattdessen, das Unternehmen so auszurichten, aufzustellen, zu konstellieren, dass es auch (oder gerade) erfolgreich ist, wenn alles anders kommt als prognostiziert oder geplant. Es geht also nicht um die herkömmlichen Fragen wie „Was werden wir zukünftig in welchen Märkten verkaufen?“ oder „In welche Richtung muss die Produktentwicklung gehen?“ oder „Wie kommen wir an die neuesten Technologien?“. Solche Fragestellungen ordne ich der normal-strategischen Ebene zu. Diese müssen wir bearbeiten, das ist sozusagen „die Pflicht“, aber für die Zukunftssicherung wird es nicht genügen.

Mein Ansatz stellt stattdessen die Frage
Wie muss das Unternehmen SEIN,
damit es plötzliche und überraschende Wendungen großer Wirkung mitgehen kann?

Die erfolgreiche Beantwortung dieser Frage und die konsequente Umsetzung der Ergebnisse verschaffen dem Unternehmen den entscheidenden Vorteil im Wettbewerb unter den Bedingungen exponentiellen und chaotischen Wandels. Dieses Unternehmen wird die plötzlichen und unerwarteten Bedingungsänderungen besser überstehen als seine Konkurrenten. Und frei nach dem Motto „den Letzten beißen die Hunde“, werden die Konkurrenten größeren Schaden nehmen, Marktanteile verlieren, vielleicht sogar Konkurs anmelden müssen. Dadurch entsteht Freiraum für das besser auf unvorhersehbare Überraschungen vorbereitete Unternehmen. Es bekommt neue Möglichkeiten, kann wachsen und wird als Gewinner aus der Krise hervorgehen.

In meinem Buch habe ich vorgeschlagen, die oben genannte Frage auf fünf Ebenen zu beantworten: Struktur – Prozess – Mensch – Netzwerk – Kultur. Das sind die Change-Ebenen, auf denen sich das Unternehmen für den unvorhersehbaren und chaotischen Wandel justieren muss.

Bei der Beantwortung der „SEINs-Frage“ geht es grundsätzlich um zwei Aspekte:

  1. Ist das Unternehmen auf den fünf Change-Ebenen genügend widerstandsfähig (robust) gegenüber Störungen, Bedingungsänderungen und Unvorhersehbarem?
  2. Ist das Unternehmen auf den fünf Change-Ebenen anpassungsfähig genug gegenüber Störungen, Bedingungsänderungen und Unvorhersehbarem?

Zwischen diesen beiden Polen, Anpassungsfähigkeit und Widerstandsfähigkeit, muss Balance bestehen. Ich nenne das eine situationsgerechte Balance, weil es unmöglich ist, hierfür allgemeingültige Vorgaben zu machen. Das muss für jedes Unternehmen und für dessen konkrete Situation neu justiert werden. Dann erreicht das Unternehmen Change Excellence.

Die fünf Ebenen erscheinen in obiger Abbildung recht einfach. Sie wurden jedoch von der Humanagement Change Academy wesentlich ausdifferenziert. Im Detail geht es zum Beispiel um Kapital- und Marktstrukturen, um die Gestaltung der Supply Chain, um den Veränderungsmut der Mitarbeiter, die Ausgestaltung der Unternehmenskultur in ihren Grundwerten oder auch um die Verwirklichung von Open Innovation und Wissensnetzwerken. Dies sei hier nur angerissen – die Humanagement Change Academy bereitet dazu gerade eine Reihe interessanter Fachpublikationen vor, über die ich Sie zu gegebener Zeit informieren werde.

Auch die praktische Anwendung des Hannoveraner Modells läuft bereits. Dafür wurde der Change Excellence Audit entwickelt, der die Widerstandsfähigkeit und Anpassungsfähigkeit von Unternehmen bestimmt. Wir sind damit in der Lage, über die Berechnung des sogenannten Changeability-Index den aktuellen Status eines Unternehmens zu objektivieren und genau die kritischen Elemente herauszufiltern, bei denen Entwicklung passieren muss. Dadurch kann das Unternehmen einen Wettbewerbsvorsprung in puncto Changeability schaffen, der es trotz der Unwägbarkeiten in der Zukunft erfolgreicher als seine Konkurrenten sein lässt.