Vorbild wider Willen

Durch einen Kollegen wurde ich angeregt, mich mit dem Thema „Vorbild“ zu beschäftigen. Ein wirklich interessantes Thema, denn wir sind ja immer Vorbild, ein gutes oder schlechtes oder irgendwie dazwischen. Meist ist uns das gar nicht bewusst, und wollen müssen wir es erst recht nicht. Aber irgendjemand schaut immer auf uns. Und richtet sich nach uns. Und schon sind wir Vorbild, ohne es zu merken. Es ist dabei völlig egal, ob wir es wollen oder nicht. Die Kinder schauen auf uns, aber auch Kollegen, Mitarbeiter, Jüngere in der Straßenbahn oder beim Spaziergang im Park. Stets wird unser Verhalten zum Vergleichsmaßstab für andere.

Nun sollten wir uns allerdings davor hüten, uns ständig beobachtet zu fühlen und die Tatsache, dass wir Vorbild sind, als Last zu empfinden. Denn eigentlich ist es ziemlich egal, ob wir uns bemühen Vorbild zu sein. Wir sind nämlich im Vorbildspiel nicht der aktive Teil. Im Gegenteil, wir werden als Vorbild genommen! Und Menschen suchen sich ihre Vorbilder danach aus, was sie selbst wollen, welche Ziele sie verfolgen, welche Eigenschaften eines Vorbilds sie für ihre eigene Situation als vorteilhaft ansehen. Wenn jemand schnell reich werden will, wird er mich nicht zum Vorbild nehmen, sondern vielleicht Donald Trump oder Dieter Bohlen. Wenn jemand Bundeskanzler werden will, wird er sich an Gerhard Schröder oder Angela Merkel orientieren. Für einen künftigen Filmstar sind es vielleicht Kevin Costner oder Maria Furtwängler.

In Unternehmen kann die Lage etwas verzwickter sein. Zunächst gilt natürlich auch hier, dass zukünftige Führungskräfte sich an ihrem jeweiligen Chef orientieren. Er ist ihr Vorbild, ob er will oder nicht. Sie lernen von ihm, wie man sich als Führungskraft verhält. Verhaltensweisen, die als erfolgreich wahrgenommen werden, imitieren sie, andere lehnen sie ab und suchen sie zu vermeiden. Und hieraus ergibt sich die Verantwortung des Chefs gegenüber seinen Nacheiferern. Er muss sich rollengerecht verhalten, dann erfüllt er seine Vorbildfunktion. Das ist keine moralische Kategorie, sondern eine funktionale!

Diejenigen meiner Chefs, die ich mir als Vorbilder ausgesucht und von denen ich viel gelernt habe, waren vielleicht nicht alles „gute Menschen“. Aber sie waren wirkungsvolle Führungspersönlichkeiten. Und nur die dafür relevanten Verhaltensweisen habe ich mir von ihnen abgeschaut. Die meisten meiner moralischen Grundsätze habe ich von anderen Vorbildern bezogen, insbesondere meinen Eltern und Großeltern, aber auch von Lehrern während der Schulzeit. Und dann gab es natürlich auch die „älteren Jungs“, die für bestimmte Fragen eines männlichen Heranwachsenden von Bedeutung waren. Auch das waren wichtige Vorbilder.

Also, egal in welcher Funktion Sie unterwegs sind, egal welche Position Sie bekleiden: Sie werden beobachtet, Sie werden imitiert, Sie sind Vorbild. Sozialisation läuft genau so, und wir alle stecken mittendrin, ob als Nacheifernder oder als Vorbild. Wichtig ist, dass wir uns darüber ein bisschen klar sind und versuchen, uns rollengerecht zu verhalten.