Was uns die VW-Affäre über komplexe Systeme sagt

In komplexen Systemen passieren Dinge, die eigentlich nicht passieren können. Dazu gehört, dass in einem Konzern wie VW plötzlich Manipulationen bei den Abgasmessungen vorgenommen werden. Nicht als Kurzschlusshandlung eines Einzelnen, sondern als konzertierte Aktion eines Teils des Managements. Eigentlich ist das bei VW nicht möglich, denn dort gibt es hohe ethische Standards, eine entwickelte Compliance-Kultur, Kontrollmechanismen zuhauf. Ich kenne das alles aus eigener Anschauung und finde VW darin vorbildlich, auch jetzt noch.

Was passiert, wenn ein solch komplexes System unter Extremdruck gerät? Die Komplexität steigt weiter an, exponentiell, und damit steigt die (an sich geringe) Wahrscheinlichkeit von Fehlverhalten. Und innerhalb des Systems VW herrscht riesiger Druck. VW muss zur weltweiten Nummer 1 unter den Autoherstellern werden, und zwar nicht irgendwann, sondern 2018! Möglichst natürlich noch eher. „Mach 18“ heißt die Kampagne, mit der der dafür nötige Druck erzeugt wurde. Unter einem solchen Druck – und dazu kamen diverse weitere Projekte und Einsparprogramme – passieren Dinge, die eigentlich nicht passieren können: Manipulationsmöglichkeiten werden genutzt, kleinere und größere. Ein Teil davon kommt an die Öffentlichkeit.

Skandal! schreien nun alle. Ein Verantwortlicher muss her. Er wird auch gefunden, mitunter auch mehrere. Das wird alles mit großem medialen Geschrei durchgezogen, nur um nicht eingestehen zu müssen, dass solche „Dinge“ in komplexen Systemen zur Normalität werden können, wenn sie unter Extremdruck geraten. Dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass alle Vorkehrungen, alle Compliance-Regeln umgangen werden. Da helfen auch noch mehr Regeln und noch mehr Kontrollen nicht.

Die richtigen Fragen würden auf den Extremdruck abzielen. Muss „Mach 18“ wirklich sein? Wer hat sich das eigentlich ausgedacht und warum? Muss man an einem solchen Ziel bedingungslos festhalten, auch wenn sich die Weltwirtschaftslage verändert? Welchen Druck üben eigentlich die Eigentümer aus, die Aktionäre, der Aufsichtsrat? Muss ein Winterkorn, wenn man schon seine Verantwortung hinterfragen will, den Extremdruck und seine möglichen Konsequenzen voraussehen? Kann man von ihm verlangen, dass er dagegen opponiert? Gehört es nicht zur umfassenden Führungsverantwortung, extremen Druck erzeugende Vorgaben zu vermeiden?

Ich – sonst ein unverbesserlicher Optimist – glaube in diesem Fall nicht daran, dass diese und ähnliche Fragen gestellt werden. Man wird den Ball flach halten, so dass ein paar Köpfe abrasiert werden. Sicher müssen die direkt Verantwortlichen herangezogen werden, keine Frage. Da sollte sich unser Mitleid in engen Grenzen halten, denn die Leute wussten, was sie taten. Aber: Der nächste Extremdruck wird bei VW gerade mit einem gigantischen Einsparprogramm aufgebaut, ohne von „Mach 18“ zu lassen. Kluges Unternehmertum würde jedenfalls mal die hochgesteckten Ziele und die Renditeerwartungen hinterfragen und auf ein angemessenes Niveau bringen. Dann würde die Wahrscheinlichkeit von Verfehlungen sinken.