Bildung tut not

Kürzlich erzählte mir ein Freund, was ihm bei einem Spaziergang mit seiner Frau widerfahren ist. Sie beobachteten eine junge Mutter, die außer sich vor Wut auf ihr Kind einschrie und an ihm rumzerrte. Mein Freund war von dem Anblick ziemlich aufgewühlt, zumal die Beobachtete außerdem auch noch sehr unappetitlich aussah, schmutzig, fett und in unsauberer Kleidung. Auch das Kind machte einen verwahrlosten Eindruck. Er erzählte mir, dass in ihm Empörung aufstieg und er sich gerade heftig einmischen wollte, als ihn seine Frau beim Arm nahm und sagte „Siehst du nicht, wie überfordert sie ist!“. Tatsächlich, die junge Frau war wirklich überfordert. Und dumm. Warum also sollte er eigentlich nun noch auf sie einschreien, sie würde es nicht verstehen. Also holte er tief Luft und lächelte die Frau an. Erstaunlicherweise hörte sie plötzlich auf zu Zetern und zu zerren, nahm das Kind an der Hand und zog davon. Er war von diesem Geschehen so überrascht, dass er noch lange darüber nachdachte und es mir auch unbedingt erzählen wollte. Das Fazit seines Nachdenkens ging ungefähr so: Für das Kind, einen kleinen Jungen, würde es sicher einmal schwer werden, aus diesem Milieu herauszukommen. Es sei denn, es bekäme frühzeitig gute Bildungschancen und könnte sie annehmen. Leider aber entziehen sich immer mehr Kinder und Jugendliche aus schwierigen Milieus den Bildungseinrichtungen oder werden ihnen entzogen, von den Eltern, von Älteren und durch den Einfluss ihrer Cliquen. Mein Freund war für die Zukunft ziemlich pessimistisch.

Einige Tage später las ich dann in der Zeitung, dass seitens der Regierung gerade einiges in Bewegung gesetzt wird, um das Bildungswesen in Deutschland wieder nach vorne zu bringen. Es hat zwar einige Jahre gedauert, bis die öffentlichkeitswirksamen Ergebnisse der Pisastudien und die gern in den Medien etwas zurückgehaltenen Klagen vieler Unternehmen über den ungenügenden Wissensstand und die unzureichende Leistungsbereitschaft vieler, vor allem männlicher Jugendlicher zu konkretem Handeln führten. Aber jetzt scheint es ja loszugehen. Es begann interessanterweise mit der Elitenförderung, mit Eliteunis. Auch viele Privatinitiativen für die Kinder von Leuten, die es sich leisten können, werden gefördert. Ich glaube aber nicht, dass Eliteförderung das ist, was wir am Dringendsten brauchen. Wir brauchen Bildung für die Masse, für die sogenannte Unterschicht. Schaffen wir diese nicht, werden die gesellschaftlichen Probleme von Sozialschnorrerei, Gewalt und Kriminalität immer größer werden und schließlich ausufern. Das Elitenthema braucht nicht so viel Aufmerksamkeit. Wirkliche Eliten, die etwas taugen, kommen nicht aus teuren Retorten, sondern entwickeln sich aus der breiten Bevölkerung, im freien Wettbewerb beim Ergreifen der gebotenen Chancen. Ich habe dazu bereits im April dieses Jahres einen Infobrief geschrieben (Neue Eliten braucht das Land).

In Deutschland ist glücklicherweise auch eine Diskussion darüber im Gange, welche Bildung wir brauchen, wie Bildung eigentlich sein muss. Bei Gesprächen mit Lehrern, die ja an dem Thema am Nächsten dran sind und von denen viele sich damit schon seit Jahren intensiv, leider aber häufig am Rande einer gefühlten Aussichtslosigkeit, beschäftigen, kommt oft die Forderung nach besserer frühkindlicher Erziehung. Dort werden sicher die Grundlagen gelegt für eine positive Einstellung zum Lernen, zu Leistung und gemeinschaftlichem Verhalten. Wer aber soll das leisten? Klar, die Eltern. Würde ich mich aber ehrlich gesagt nicht drauf verlassen, wenn ich an das eingangs geschilderte Beispiel denke. Auch die in vielen Mittelstandsfamilien vorherrschende Außenorientierung in Richtung Beruf und Selbstverwirklichung lässt nicht viel Raum für die Erziehung der Kleinen. Vielfach gibt es das Ideal, die Kinder möglichst unbeeinflusst aufwachsen zu lassen. Das ist zwar bequem für die Erwachsenen, schafft aber nicht den notwendigen Einfluss auf die Kinder. Einem Land wie Deutschland müsste es doch möglich sein, ein funktionierendes und staatlich finanziertes System für die frühkindliche Erziehung zur Verfügung zu stellen. Ich bin sicher, viele würden es nutzen, vorausgesetzt, es wäre freiwillig und gut.

Wenn man sich ein bisschen mit dem Thema Bildung beschäftigt merkt man schnell, dass Bildung sich beileibe nicht in Wissensvermittlung erschöpfen sollte. Rationale Bildung ist das, was gegenwärtig überwiegend in den Bildungsinstitutionen vermittelt wird. Und da beobachten wir eher zu viel an Angebot als zu wenig, was von den meisten Schülern nicht solide verarbeitet und in anwendungsbereites Wissen umgesetzt werden kann. Neben der rationalen Bildung muss es aber zweifellos auch um Charakterbildung gehen, also um Eigenschaften wie Ehrlichkeit, Freundlichkeit, Aufgeschlossenheit und Toleranz, um Mut, Leidenschaft für eine Sache und um Kameradschaftlichkeit. Und bei diesen Kategorien fühlen sich die Schulen in Deutschland in einer misslichen Lage. Hier riecht es nämlich schnell nach Beeinflussung, Gehirnwäsche, Uniformierung, Gleichschaltung. Und da schreckt der deutsche Michel zurück, weil er fürchtet, sofort in die Nähe der Nazis und Kommunisten vergangener Zeiten gerückt zu werden. Wir können mit diesen Themen einfach nicht entspannt umgehen, weil uns die Schatten der Vergangenheit immer noch im Genick sitzen. Und so verschieben wir das Thema Charakterbildung in stillschweigender Übereinkunft in die Familien. Dort ist es aber nicht ausreichend gut aufgehoben, wie ich weiter vorn schon gezeigt habe.

Hier gibt es also viel Stoff für die gesellschaftliche Diskussion. Es ist gut, dass diese immer wieder angestoßen wird. Ich glaube, dass auch die Banken- und Wirtschaftskrise, die einen Teil ihrer Wurzeln in den Charakterbildern aller Akteure haben (allerdings nicht nur), hierzu noch einige Diskussionen auslösen wird. Mal sehen, wie weit sie führen.

Es gibt noch einen Bereich der Bildung, über den allerdings so gut wie nicht im öffentlichen Raum gesprochen wird. Es ist die Herzensbildung, also Eigenschaften wie Mitgefühl, Hilfsbereitschaft, Gewaltlosigkeit, Demut und Altruismus. Dieses Feld wird in der Regel den Religionen überlassen, deren Zugänge zu den Menschen jedoch schwinden. Hier tummeln sich auch Sekten und Heilsverkünder, deren Ziele oft undurchsichtig bleiben und in vielen Fällen die Menschen nicht wirklich voranbringen. Dabei haben wir gerade in Deutschland einen riesigen Fundus an Tradition, der auf diesem Gebiete wirkungsvoll eingesetzt werden könnte. Das gesamte humanistische kulturelle Erbe steht zur Verfügung. Statt es in darbenden Museen und Kunsteinrichtungen ungenutzt zu lassen, sollten Kultur, bildende Kunst, Musik und Literatur viel stärker in die Lehrpläne. Natürlich muss man heute Klassik anders vermitteln als vor fünfzig Jahren, aber es gibt ja auch dafür schon tolle Beispiele.

Es gibt also viel zu tun, und es läuft schon viel. Ich bin sicher, wenn bei den dafür nötigen Diskussion die Ideologie aus dem Spiel bleibt und stattdessen nach pragmatischen Lösungen gesucht wird, kann es in den nächsten Jahren richtig vorwärts gehen.