China und der Wandel zweiter Ordnung

Anfang des Monats war ich als Mitglied der Delegation des neuen niedersächsischen Ministerpräsidenten David McAllister in China. Die Reise war zwar noch für Christian Wulff geplant worden, aber bekanntlich laufen die Dinge ja manchmal anders als man denkt. Politikerwechsel kommen – aus den unterschiedlichsten Gründen – häufiger und manchmal eben auch überraschend vor und sind letztlich Ausdruck der hohen Dynamik unserer Zeit.

Damit bin ich auch schon beim Thema dieses Infobriefs, nämlich bei der Dynamik komplexer Systeme. Nirgends besser zu besichtigen als in China. Ich hatte ja einiges erwartet, schließlich war ich vorbereitet und habe im Vorfeld der Reise die Medienlandschaft nach Informationen durchforstet. Die Realität in China hat mich dann aber doch umgehauen. Und nicht nur mich, sondern alle Delegationsmitglieder, die zum ersten Mal China besuchten. Die „alten Hasen“ lächelten nur und freuten sich, dass es uns ähnlich erging wie ihnen selbst bei ihren ersten Reisen.

Klar, alles was hier in Deutschland in den Zeitungen steht und was man im Fernsehen anschauen kann, stimmt und beruht auf Tatsachen. Armut in weiten Bereichen, Menschenrechtsverletzungen, kommunistische Diktatur, Geheimdienst und Polizeipräsenz. Nur – Hand aufs Herz – ich habe davon nichts gesehen und gespürt. All diese schlimmen Sachen werden vollkommen überdeckt, geradezu an die Wand gedrückt, von den gewaltigen Eindrücken des Fortschritts.

Ein paar Beispiele:

Der Bauboom in China ist ja hinlänglich bekannt. Wir können uns jedoch als Mitteleuropäer keine wirkliche Vorstellung davon machen. Ich habe in Shanghai aus dem 43. Stockwerk meines Hotels geschaut und bis zum Horizont nur Hochhäuser gesehen. Ähnlich erging es mir in kleineren Städten, beispielsweise Hefei, was hier nur wenige kennen, weil es ja nur knapp sieben Millionen Einwohner hat. Und China baut und baut immer weiter. Das Beeindruckende ist die Menge, die da aus dem Boden gestampft wird.

Nun darf man sich die Städte nicht vorstellen wie die gigantischen Betonschluchten von Manhattan. Sicher verströmen Wolkenkratzer nicht den Charme von Vorstadtsiedlungen, nirgends auf der Welt. Aber die Chinesen legen dazwischen viele Grünanlagen an, gepflegte Parks und auch die meisten Straßen werden von Blumen, Büschen und Bäumen gesäumt.

Auffällig war die Sauberkeit überall. Vermutlich gibt es noch Gegenden, in denen Schmutz rumliegt, aber die wirklich großen Innenstädte und auch weite Teile des von der Eisenbahn zu sehenden Landes sind extrem sauber. Es gibt weder Grafitti noch liegt irgendwo Müll oder Papier rum. Amerikanische Großstädte, ja selbst Berlin, sind dagegen einfach nur dreckig. Nun kann man sagen „Klar, das ist halt Zentralismus!“ Trotzdem ist der Zustand der Sauberkeit sehr angenehm, und die Chinesen kriegen es hin, wir nicht.

Ein besonders beeindruckendes Erlebnis war das Fahren mit der Eisenbahn. Die Bahnhöfe tiptop, die Züge sauber, das Personal sehr freundlich und sorgfältig gekleidet. Während der Fahrt wurde in den Gängen immer wieder sauber gemacht, alte Zeitungen und Verpackungsreste wurden sofort eingesammelt. Und natürlich waren die Züge pünktlich. Und man höre und staune: Sogar die Klimaanlagen funktionierten einwandfrei, trotz 40 Grad Außentemperatur.

Nun noch einige Anmerkungen zur Wirtschaft, auch diese in loser Reihenfolge:

Bei der Besichtigung einer chinesischen LKW-Fabrik, einem absoluten Vorzeige-Unternehmen mutet vieles noch etwas rückständig an im Vergleich zu VW-Werken. Alles läuft langsamer, es steht mehr herum, es ist unter den Maschinen nicht wirklich penibel sauber, die Abläufe machen einen nicht ausoptimierten Eindruck. Auch die Produktqualität lässt, selbst bei den Ausstellungsstücken, zu wünschen übrig, weil beispielsweise unsauber lackiert ist. Aber: Die Fabrik produziert fürs Inland und den Export in asiatische Märkte und nach Afrika. Und dort genügt die Qualität den Anforderungen und die Preise sind unschlagbar niedrig wegen der immer noch billigen Arbeitskräfte. Das heißt, der Qualitäts- und der Rationalisierungsgrad dieses Werks entsprechen völlig den Erfordernissen. Warum also Geld ausgeben, um den westeuropäischen Standard zu erreichen?

Auch bei Gesprächen mit deutschen Unternehmern kam die Sprache schnell auf dieses Phänomen. Es festigt sich die Erkenntnis, dass die in Deutschland entwickelten Produkte und Verfahren für den chinesischen Markt und auch für die Produktion in China häufig „overdesigned“ sind. Sie sind zwar technisch ausgereifter, aber das braucht man meistens in China nicht. Viele deutsche Unternehmen, so z.B. Continental, bauen deshalb eigene Entwicklungskapazitäten in China auf, weil diese einfach die Bedürfnisse der konkreten Situation dort besser treffen als die deutschen Entwickler zu Hause. Auf diesem Wege wird China in den nächsten Jahren zum Forschungs- und Entwicklungsstandort werden. Da müssen wir schauen, dass wir Partner bleiben.

Dazu kommt, dass die zahlreichen Universitäten oft hervorragend ausgerüstet sind. Allerdings krankt das gesamte chinesische Bildungssystem wohl an einem entscheidenden Mangel: Es wird auswendig gelernt! Die Jugend lernt nicht Problemerkennung, Problemanalyse und -lösung. Es wird zu wenig Kreativität vermittelt. Die Chinesen haben das erkannt und wollen es ändern. Allerdings wird man dafür etwas länger brauchen, u.a. weil dafür gar nicht die richtigen Lehrer da sind. Auch methodisch gibt es Rückstände. So sind interaktive Lehrmethoden weitgehend ungebräuchlich, wie uns erzählt wurde. Das wäre ein Feld für unsere Managementrainer.

Es gibt ein weiteres Problem, mit dem vor allem die ausländischen Unternehmen in China zu kämpfen haben. Die Loyalität der chinesischen Mitarbeiter gegenüber ihren Unternehmen ist offensichtlich sehr gering ausgeprägt. Bereits für marginale Lohnvorteile wird gewechselt. Gut angelernte und in den Unternehmen ausgebildete Leute gehen plötzlich weg. Deutsche Firmen, wie Volkswagen oder Continental, aber auch viele kleinere, versuchen dieser Eigenart mit semimateriellen Angeboten, z.B. Altersversorgung oder Unterstützung bei Wohnraum, entgegen zu steuern. Hier könnte Change Management beweisen, was es wirklich wert ist.

Besserungen scheint es im Bereich Patentschutz zu geben. Zumindest gibt es ein starkes Bemühen der Regierung, auf diesem Gebiet Ordnung zu schaffen. Man berichtet davon, dass Patentstreitigkeiten zunehmend zugunsten ausländischer Firmen entschieden werden. Auch auf dem Gebiet der Regularien und Genehmigungen, wichtig u.a. besonders für die Pharmaindustrie, zeichnen sich Fortschritte ab.

Was hat denn das alles nun eigentlich mit der Dynamik komplexer Systeme zu tun? Ganz einfach: China und die chinesische Gesellschaft sind so komplex, dass nach seiner Öffnung vor 30 Jahren gesetzmäßig eine hohe Dynamik entstehen muss. China strebt unaufhaltsam nach vorn. Seine hohe Komplexität erzwingt das geradezu. Veränderungsprozesse laufen dort mit höchstem Tempo, überlagern sich und sind turbulent. Die Chinesen erleben den Wandel zweiter Ordnung bereits, über den ich in meinem Buch „Jenseits vom schnellen Gewinn“ geschrieben habe. Und er wird auch den Wandel hierzulande weiter beschleunigen.