Die "neue Normalität" in der Krise

Das Coronavirus hat die Arbeitswelt verändert. Plötzlich funktioniert Homeoffice und ist breit akzeptiert. Viele registrieren erstaunt, aber auch beglückt, dass die Meetings und Besprechungen effektiver laufen. Der Zugang zu Dateien und Informationen funktioniert auch in der oft geschmähten (und natürlich unbedingt noch verbesserungsfähigen) Internetwüste. Die Kontakte zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern werden enger, sogar wenn sie räumlich voneinander getrennt sind. In der Produktion sind Aufmerksamkeit und Verantwortungsbewusstsein trotz oder gerade durch die verschärften Hygienebedingungen, veränderten Abläufe im Schichtbetrieb und durch den gewachsenen Druck des unbedingten Liefern-müssens gestiegen. Überall konzentrieren sich die Mitarbeiter und die Vorgesetzten auf das Wesentliche zur Aufrechterhaltung der Produktion. Die Prioritäten haben sich ganz klar auf die Supply Chain, die Materialbereitstellung und auf die Produktionsdurchführung fokussiert. Das ist gut so und ein wesentliches Element der überall zu beobachtenden und erstaunlichen Resilienz dieser Unternehmen. 

Aber auch der mentale Wandel ist bewundernswert. Die Teams und jeder Einzelne sind engagiert, lassen sich von den schwierigen Bedingungen nicht entmutigen, kämpfen um Lösungen und stehen zusammen. Welch ein Unterschied zu einigen Wochen zuvor, als doch vergleichsweise viel genörgelt und gestritten wurde und viele sich lieber in Problemen suhlten. Wir sehen daran, dass große Herausforderungen Einigkeit erzeugen. Wenn der „Feind“ außen steht, dann schweißt das die Mannschaft zusammen!

Soweit so gut. Die Unternehmen, die Teams und auch die einzelnen Personen haben sich an die besondere Situation angepasst, und zwar überraschend schnell und gründlich. Sie gehen damit um, als sei es irgendwie schon normal. Mir hat sich dafür der Begriff einer „neuen Normalität“ aufgedrängt. Das ist einerseits gut und spricht für Resilienz und Anpassungsfähigkeit. Aber sie birgt auch Gefahren:

  • An verschiedenen Stellen können wir beobachten, dass improvisierte Lösungen als Normalfall Akzeptanz finden. Das zeitweise Außerkraftsetzen bestimmter Regeln und Vorschriften prägt sich unreflektiert als Normalität ein – kann zum Beispiel bei Gesundheits- und Arbeitsschutz, aber auch bei mitbestimmungspflichtigen Dingen problematisch werden. Das Weglassen einzelner Tätigkeiten wegen der besonderen Bedingungen und veränderten Prioritäten führt leicht dazu, sie dauerhaft für nicht notwendig zu betrachten – hierzu zählen vielleicht das Anlegen von Dokumentation oder die Erfassung von Daten.
  • Strategische Arbeiten, zum Beispiel zur Vorbereitung wichtiger und langfristiger Entscheidungen, werden zurückgestellt – „dringend“ erhält den Vorrang gegenüber „wichtig“. Das kann eine Zeitlang akzeptiert werden, darf jedoch nicht zu lange dauern. Mit fortschreitendem Krisenmodus und Vernachlässigung der langfristigen Aufgaben entsteht dadurch ein Substanzverlust, der sich später bitter rächen wird.

Das sind die zwei Aspekte, die mir nach meinen Gesprächen mit Betroffenen immer wieder durch den Kopf gehen. 

Mein Tipp für Führungskräfte: Schauen Sie genau hin und prüfen Sie, ob in Ihrem Verantwortungsbereich bereits solche Zeichen auftreten.

Sie sollten sich einfach immer vor Augen halten, dass diejenigen Unternehmen, Teams und Organisationen am besten und mit geringstem Aderlass durch Krisen kommen, die sich am schnellsten und wirkungsvollsten anpassen, am wenigsten Substanz verlieren und am schnellsten wieder in die „Zeit danach“ hineinkommen.