Die Welt besteht aus vielen Welten

Normalo-Welt

Normale Menschen leben in einer ganz besonderen Welt. Dort bleibt ihnen nicht allzu viel Zeit für Philosophie, hohe Politik und andere schöne Künste. Nicht, dass sie sich dafür nicht interessierten, aber sie haben schlicht andere Themen. Sie müssen ihren Alltag organisieren und den ihrer Kinder. Die Tochter in die Schule bringen, den Sohn zum Sport. Oder war es umgekehrt? Dann muss noch der Wochenendeinkauf erledigt werden, geschaut, wo es Sonderangebote gibt, und am Wochenende ist da auch noch eine Geburtstagsfeier, zu der sie eingeladen sind und unbedingt hinfahren müssen. Mitunter suchen sie nach einer neuen Wohnung, bezahlbar und in ausreichend guter Lage. Außerdem geht es von Zeit zu Zeit um die Auswahl der richtigen Schule für das älteste Kind, Gymnasium oder nicht, wenn ja, welches? Irgendjemand braucht neue Schuhe. Ach so, die Urlaubszeit naht. Ist eine Reise möglich, wenn ja wohin? Oder soll die Zeit lieber in den kleinen Garten, das Renovieren der Wohnung oder den Anbau ans Häuschen gesteckt werden. Auf der Arbeit geht es um Sonderschichten, Prämien und die längst fällige Gehaltserhöhung, einen neuen Chef und den ständigen Streit mit der Nachbarabteilung. Irgendwann soll auch mal wieder mit Freunden ein Bier getrunken werden oder ein Mädelsabend steigen. Dann ist plötzlich die Kreditkarte weg. Und plötzlich wird die Oma krank und muss gepflegt werden.

Diese Aufzählung ließe sich bis ins Unendliche fortsetzen. Aber sie sollte genügen, um zu zeigen, dass normale Menschen unglaublich viel um die Ohren haben, meist ganz banale Dinge, die jedes für sich wichtig sind. Wenn eins davon übersehen wird, außer Kontrolle gerät oder schief geht, hat das meist fatale Folgen für die Familie, für das Zusammenleben und überhaupt ... Dazu kommt, und das ist für normale Leute höchst bedeutungsvoll: Sie können nichts delegieren. Sie können sich meist keine Haushaltshilfe leisten, sicherlich keinen Gärtner oder sonst jemanden, der ihnen die Organisation ihres täglichen Lebens abnimmt. Sie sind nur auf sich selbst, ihren Ehepartner – sofern sie einen haben – und gelegentlich den einen oder anderen Freund angewiesen. Meist bekommen sie es einigermaßen hin, ihr Chaos zu ordnen. Aber sie müssen sich anstrengen und voll auf ihre eigene Welt konzentriert sein. Und damit wären wir beim Kernpunkt: Sie leben, arbeiten und kommunizieren in ihrer Welt. Nennen wir sie die Normalo-Welt. Diese Welt setzt ihnen die Bedingungen für ihr Verhalten und für ihr Denken. Daneben bleibt nicht viel Platz, und kaum Kraft und Zeit für andere Welten.

Politiker-Welt

Auch Politiker leben in einer ganz besonderen Welt. Wobei ich hier, um zuzuspitzen, differenzieren muss. Je näher Politiker an der kommunalen Ebene dran sind, also Bürgermeister von kleinen Gemeinden und Städten, Mitglieder von Ortsräten und Stadtverwaltungen, desto mehr ähnelt ihre Welt der Normalo-Welt. Je weiter sie an die Spitze der Politikerpyramide heranrücken, desto mehr unterscheidet sich ihre Welt von der Normalo-Welt. Und um diese Politiker an der Spitze der Pyramide geht es mir, denn sie beeinflussen unser Leben und spielen in den Medien, also in der gesellschaftlichen Wahrnehmung eine große Rolle. Sie haben in ihrer Welt – nennen wir sie die Politiker-Welt – andere Themen: Wie sie sich gegenüber ihren politischen Konkurrenten in den anderen Parteien, aber vor allem auch in der eigenen Partei durchsetzen. Wie sie sich in den Parteigremien in Szene setzen. Wie sie hilfreiche Netzwerke bilden. Wie sie auf einen aussichtsreichen Listenplatz kommen. Wie sie in die Medien kommen. Wie sie sich Journalisten gewogen machen. Wie sie so kommunizieren, dass sie unangreifbar bleiben, also möglichst unverbindlich, möglichst unkonkret. 

Auch für die Politiker-Welt ließe sich die Aufzählung ins Unendliche fortsetzen. Es geht ihnen nicht wirklich um solche Banalitäten, wie die Erhöhung ihrer Diäten. Das wird ihnen zwar oft unterstellt, interessiert sie aber nicht wirklich. Diese Beträge sind in ihren Augen Peanuts, verglichen mit Einfluss und Macht. Und gar die Probleme der Normalos? Die tangieren sie bestenfalls am Rande. Wohlgemerkt: Ich kritisiere das nicht. Das ist normal und folgerichtig. Jede Welt zwingt den in ihr Lebenden ganz spezifische Themen auf, zwingt zu einem „welttypischen“ Verhalten. Und weder die Themen noch die Regeln und Verhaltensweisen in den verschiedenen Welten sind miteinander vergleichbar. 

Sie konnten zusammen nicht kommen ...

Ich habe diese beiden Welten ein bisschen ausführlicher beschrieben, weil das zu einer simplen Schlussfolgerung führt: Zu glauben, dass sich Vertreter dieser Politiker-Welt für die Menschen in der Normalo-Welt wirklich interessieren, für deren Themen, Sorgen und Nöte, sich gar für sie engagieren, das ist schlicht NAIV. Wozu sollten sie das tun? Es bringt ihnen nichts. Im Gegenteil, es lenkt sie nur von den für sie wirklich wichtigen Themen ab. Sollte es mitunter so aussehen, als würden sich besagte Spitzenpolitiker für die Themen der normalen Menschen interessieren, dann handelt sich das um eine kurzzeitige Täuschung. Selbst in Wahlkampfzeiten geht es nicht wirklich darum, sondern es geht auch und gerade dann überwiegend um Positionskämpfe. Um die besten Positionen in der Politiker-Welt, denn die meisten kommen über Listenplatzierungen in den Bundestag. Auf irgendeine Weise werden sie auf jeden Fall gewählt, ob in die Regierung oder in die Opposition. Egal wie es ausgeht, sie bleiben im Spiel, bleiben in der Politiker-Welt. Nur darum geht es. Das sind die eisernen Regeln in der Politiker-Welt. Manchmal – selten genug – trifft man auf einen Spitzenpolitiker, der sich nicht an diese Regeln hält. Oder schlecht spielt. Der kann sich in dieser Welt nicht halten. Prominentestes Beispiel ist vielleicht Friedrich Merz, der für Jahre in der politischen Versenkung verschwunden war, weil er nicht gut genug gespielt hatte. Aber er hat gelernt, und jetzt ist er wieder da. Und jetzt spielt er besser, in den Parteigremien, mit den Medien und in seinen Netzwerken. Mitunter verhält sich der eine oder andere Newcomer nicht welttypisch. Meist ändert sich das jedoch nach einer Weile. Jüngstes Beispiel ist Mario Czaja, der neugewählte CDU-Generalsekretär, vorab Sozialsenator in Berlin und der Mann, der das Direktmandat in Berlin-Marzahn gewonnen hat. Und zwar, weil er anders ist, gegen den Strich gebürstet hat und untypische Verhaltens- und Kommunikationsweisen zeigte. Mal sehen, wie er sich verändern wird.

Medien-Welt

Andererseits interessieren sich die Normalos auch nicht wirklich für die Politiker-Welt, denn das würde ihnen in ihrer eigenen Welt keine Vorteile bringen. Sie schauen lediglich durchs Schlüsselloch, weil sich dort eine manchmal spannende Unterhaltung bietet. Und außerdem kann man sich über die Politiker, über „die da oben“, wunderbar aufregen, und das braucht der Mensch von Zeit zu Zeit. Und dieses Aufregen wird ihnen durch eine andere Welt ermöglicht, durch die Medien-Welt. Sie hält Anschluss zur Normalo-Welt und zur Politiker-Welt – muss sie auch, um ihre eigene Welt mit Nahrung zu versorgen. Die Nahrung der Medien-Welt ist Aufmerksamkeit. Davon lebt die Medien-Welt. Wer in dieser Welt am meisten Aufmerksamkeit abbekommt, der sitzt oben und erntet den Erfolg. Weil die meiste Aufmerksamkeit bei Negativmeldungen und dramatischen Sensationen entsteht, haben diese in der Themenrangfolge erste Priorität. Negativmeldungen haben eine doppelte Wirkung. Sie erzeugen Aufmerksamkeit und ziehen Normalos wie Politiker als Konsumenten in die Medien-Welt, gleichzeitig drängen sie die anderen Meldungen von den Konsumenten weg. Wir können die Wirkung dieser Mechanismen, die in der Medien-Welt herrschen und die Akteure zu ihren Verhaltensweisen regelrecht zwingen, täglich beobachten. Egal, welchen Kanal oder welches Erzeugnis wir uns anschauen, überall dominieren Corona mit all seinen ständig wechselnden Wahrheiten, die Ukraine- oder andere Krisen, die extremen Seiten der Migration, die Klimakrise, am liebsten kombiniert mit Naturkatastrophen, oder Mord und Totschlag, Skandale und Enthüllungsstorys. Dabei nehmen es manche Journalisten mit der Wahrheit nicht so genau, manchmal aus Schlampigkeit, manchmal bewusst, weil es ja Quote bringt. Und im Übrigen lügt es sich ja auch gefahrlos, weil von den ehernen Prinzipien der Pressefreiheit gedeckt.

Erst kürzlich ist mir dieser Zusammenhang wieder ganz deutlich geworden. Das Ableben von Thich Nhat Hanh war einigen Medien immerhin eine kurze Meldung, bestenfalls einen unter den Sensationsthemen fast verschwindenden Beitrag wert. Sie wissen nicht, wer Thich Nhat Hanh ist? Genau dort liegt der Hase im Pfeffer, ich wusste das auch nicht. Dieser vietnamesische Mönch hatte in der Vergangenheit in den Medien keine wahrnehmbare Rolle gespielt, obwohl seine Lehren eine große Bedeutung für die Welt besitzen und sein Leben ein großartiges Beispiel für die gewaltfreie Lösung von Problemen ist. Aber das wären zu positive Nachrichten gewesen, die in der Medien-Welt nichts bringen. Deshalb ... na und so weiter. Sie wissen, was ich meine.

Bedingungen bestimmen Regeln, bestimmen Verhalten und Kommunikation

Noch einmal: Ich kritisiere das alles nicht, weil ich weiß, dass die Welt eben genauso funktioniert. Das mag uns nicht immer gefallen, aber jeder, der sich nicht an die Regeln der Welten hält, in denen er sich bewegt, der scheitert. Also richtet jeder sich nach den Regeln, die seine Welt ihm diktiert. Verstöße sind gefährlich, grobe oder dauerhafte Verstöße katapultieren aus der jeweiligen Welt hinaus. Solche Menschen nennt man manchmal Aussteiger, manchmal Verlierer. Das gilt für die Normalo-Welt wie für die Politiker-Welt wie für die Medien-Welt, und alle anderen. Es ist schlau und erfolgreich, sich an die Regeln zu halten. Es ist dumm und riskant, gegen die Regeln zu verstoßen.

Man kann es auf einige kurze Merksätze bringen: Alle verhalten sich so, wie sie müssen! Oder wie sie glauben zu müssen. Die Bedingungen der Welt, in der wir leben, bestimmen die Regeln und das Verhalten, mit denen wir erfolgreich sein können.

Es bringt also nichts, an Wohlverhalten zu appellieren. Wenn wir ein anderes Verhalten von Politikern, Medienleuten oder von den Normalos wollen, dann müssen wir die Bedingungen in den jeweiligen Welten ändern. 

Regelbrecher und Querdenker

Es gibt natürlich immer wieder Regelbrecher, Gott sei Dank! Wenn sie gewinnen, sind sie Helden. Sie schaffen Veränderung, ändern Bedingungen und Regeln. Manche dieser Regelbrecher sind uns sympathisch, wie etwa Steve Jobbs oder Elon Musk – zumindest solange wir sie nicht näher kennen. Andere können wir überhaupt nicht leiden, wie eben Donald Trump. Aber diese Ausnahmen ändern die Regeln, verbiegen die Welten und durchbrechen ihre Grenzen. Wenn sie verlieren, kräht kein Hahn mehr nach ihnen oder sie werden zu Negativbeispielen.

Warum ich das alles hier darlege? Weil ich möchte, dass wir keine naiven Erwartungen hegen an das Verhalten von Politikern, von Topmanagern oder von anderen mächtigen und in der Öffentlichkeit stehenden Personen. Sie sind nicht auf unserer Seite, sondern immer nur auf ihrer eigenen. Das müssen sie!