Essay über richtig und falsch

Richtig und falsch wird vorgegeben

Meine ersten Konfrontationen mit „richtig“ und „falsch“ erlebte ich, wie sicherlich die meisten Menschen, durch Mutter und Großmutter. Sie machten mir zum Beispiel klar, dass es richtig ist, den Brei von meinem Teller aufzuessen, und dass es falsch ist, ihn auf Tisch und Fußboden zu verteilen. Diese Belehrungen dienten zweifellos zu meinem Vorteil, waren von Sorge und Liebe getragen. 

In späteren Jahren kamen dann richtig/falsch-Vorgaben meines Vaters hinzu, an die ich mich noch vage erinnern kann und die dann schon eher Regelcharakter trugen. Das waren solche Dinge wie sonntagsvormittags Schuhe zu putzen oder ihm bei irgendetwas zur Hand zu gehen, auch wenn ich gerade anderes im Sinn hatte. Dabei habe ich eine wichtige Lektion gelernt: Der Stärkere bestimmt, was richtig und was falsch ist.

Das war eine gute Vorbereitung für meine späteren Jahre, in denen ich in die Schule ging und von den Lehrern gesagt bekam, was richtig und was falsch ist. Da ich ein ziemlich helles Kerlchen war, fand ich schnell heraus, dass diese Lehrer auch Dinge dann als richtig darstellten, wenn sie nach Faktenlage eindeutig falsch waren. So zum Beispiel im Falle einer mathematischen Beweisführung – eben einfach deshalb, weil Mathematiklehrerin es so gesagt hatte und ihren Fehler nicht zugeben wollte. Wichtige Lektion: Nicht nur der Stärkere bestimmt, was richtig und falsch ist – stärker war meine ältliche Mathelehrerin nun wahrlich nicht – sondern der Mächtigere gibt richtig und falsch vor. Ihre Macht bezog die Lehrerin aus der Institution Schule und der Tatsache, dass meine Eltern diesen Machtanspruch unterstützten. „Komm mir ja nicht mit schlechten Noten nach Hause ...“. Damals war das noch so.

Aber egal, dabei habe ich noch etwas Wichtiges gelernt: Es ist nicht unbedingt von Vorteil, wenn man als der Schwächere auf „richtig“ besteht. Wenn ich es doch tat, musste ich es später auf irgendeine Weise ausbaden, denn die Lehrer saßen am längeren Hebel. Also hielt ich die Klappe, dachte mir mein Teil und suchte nach Wegen, trotzdem mein Ding zu machen. Denn schließlich glaubte ich zu wissen, was richtig war, konnte es nur nicht durchsetzen.

Richtig/falsch kann helfen oder missbraucht werden

Bis hierhin macht es durchaus Sinn, dass Menschen, die zum Beispiel mehr Lebenserfahrung haben oder eine bestimmte Rolle in der Gesellschaft einnehmen, richtig und falsch festlegen und vorgeben. Dadurch funktioniert das Zusammenleben in der Gesellschaft und das ist für den Einzelnen durchaus vorteilhaft, auch wenn man da mal zurückstecken muss.

Aber damit ist die Geschichte natürlich noch lange nicht zu Ende. Im Laufe meines Lebens kamen noch viele richtig/falsch-Lektionen hinzu. Zum Beispiel folgende:

Ich bin ja in der Ex-DDR aufgewachsen. Da wurden in den Betrieben Planvorgaben gemacht, die völliger Unsinn waren, aber eben „richtig“ im Sinne der Partei (und sei es nur, damit sie bzw. ihre Vertreter Recht hatten). Da waren verbale Treuebekenntnisse und loyale Verhaltensweisen „richtig“ und eigenes, anderes Denken war „falsch“. 

Also: Diktatoren benutzen richtig und falsch, um die Menschen zu disziplinieren, mich und letztlich die ganze Bevölkerung „auf Linie“ und in den Griff zu bekommen und ihre Macht zu mehren. Hier wird die Grenze zum Missbrauch überschritten.

Moment mal! Solcherart Missbrauch gibt es nicht nur in Diktaturen. Auch in der freien Wirtschaft ist es mir passiert, dass der Vorstand eine Investitionsentscheidung auch dann noch für richtig befand und durchsetzte, als alle Zahlen bereits gegen sie sprachen. Und als ich dagegen opponierte, wurde ich kaltgestellt. Eindeutig Missbrauch!

Bleiben wir noch einen Moment bei dem Machtspiel mit richtig und falsch zum Zwecke der Disziplinierung. Schauen wir in unsere demokratische Gesellschaft heute, ganz aktuell, und betrachten Phänomene wie Klimaschutz, Gendern und Metoo. Das sind zweifelsfrei wichtige und ehrenwerte Anliegen, aber sie führen aktuell zu heftigsten Kämpfen, zu Machtkämpfen und zu Cancel Culture. Sie sind „missbrauchsanfällig“. Bei all diesen Themen sind es zunächst einige wenige Menschen, die richtig und falsch definieren. Vielleicht haben sie damit ja sogar recht?! Aber dann werden die Gräben vertieft und richtig und falsch wird zur Waffe gegen Andersdenkende. Das führt bis zur Vernichtung von Existenzen, wie jüngste Beispiele aus dem Hochschul- und aus dem Kunstbetrieb belegen. 

Für mich offenbart sich hier das Grenzkriterium, bei dem aus einem das Zusammenleben fördernden richtig/falsch-Anspruch Missbrauch wird: Wenn eins richtig ist, ist alles andere falsch! 

Und wer benutzt diese Waffe? Es sind immer einzelne Menschen oder Gruppen, die sich davon Vorteile versprechen, sei es als Diktator die macht über ein Land oder – im Alltagsmaßstab – eine berufliche Existenz (vielleicht als Gleichstellungsbeauftragte oder Professoren an einem Genderlehrstuhl oder in den Gremien von Parteien), sei es eine besonders herausragende Rolle in ihrem sozialen Umfeld, Image oder einfach nur Sinnerfüllung. Dadurch werden – unter absolutistischer, ausschließender Nutzung des richtig/falsch-Mechanismus – zunächst ehrenwerte Anliegen zur Machtgewinnung und Machtsicherung benutzt. Irgendwie ist das auch Diktatur, oder nicht?

Richtig und falsch sind relativ

Jeder hat das schon einmal erlebt: Es passiert ein Missgeschick, beispielsweise fährt uns der Bus vor der Nase weg. Und während wir noch wütend vor uns hin schnaufen, klopft uns jemand auf die Schulter, wir drehen uns um und erkennen einen alten Bekannten, den wir ewig nicht gesehen haben, mit dem uns aber viele angenehme Erinnerungen verbinden. Der Tag ist gerettet! Was zunächst wie ein Unglück, „falsch“ aussah – der verpasste Bus – erweist sich plötzlich als Glück, als „richtig“. Meine Großmutter hatte deshalb im Falle eines Missgeschicks immer den Spruch „Wer weiß, wozu es gut ist“ parat.

Also: Richtig und falsch ändern sich mit der Zeit, sie wechseln die Richtung und folgen Situationen, wandelnden Einschätzungen und sich verändernden Bedingungen. 

Besonders deutlich wird uns das, wenn wir früher richtige Entscheidungen und Handlungsweisen, etwa den Umgang mit Tieren, mit anderen Menschen oder mit Sprache, aus heutiger Sicht bewerten und zu anderen Entscheidungen und Verhaltensweisen kommen. Haben die damaligen Menschen falsch gehandelt, wenn sie aus ihren Kontexten heraus richtig entschieden haben? Und wenn ja, liegen wir heute richtig, diese Leute zu verdammen, nur weil wir andere, bessere, humanere Sichtweisen haben? Vielleicht sollten wir eher froh und dankbar sein, heute zu leben, denn mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit hätten wir damals die gleichen – aus heutiger Sicht – Falschheiten gemacht.

Wie richtig/falsch zum Machtinstrument wird 

Ich komme jetzt noch einmal auf die Diktaturen zurück, weil dort – aber nicht nur dort – eines besonders deutlich wird: Richtig und falsch wird zu einer gesellschaftlichen Machtdimension.

Der Diktator allein könnte ja ruhig richtig und falsch definieren, da würde sich noch niemand wirklich drum scheren müssen. Aber um ihn herum gibt es viele Leute, die es ihm recht machen wollen (oder müssen). Und die greifen seine Vorgabe auf und verstärken sie. Ein diktatorisches Regime, ob Sowjetunion, DDR, Nordkorea oder Cancel Culture, funktioniert nur, wenn große Teile der Massen, und nicht nur die an den Schalthebeln, das Lied des Diktators singen. Dieses „Die Partei hat immer recht“ wurde von vielen Leuten getragen, weil sie Vorteile davon hatten oder Nachteile vermeiden konnten. Und von noch mehr Menschen wurde es geduldet. 

Aber wir müssen ja gar nicht so weit zurückschauen. Ein interessantes Beispiel ist der Atomausstieg in Deutschland. Es gab die Atomkraftgegner, deren Stimmen allein noch nicht zu dieser Entscheidung geführt hätten. Durch das Ereignis Fukushima schwenkte die Kanzlerin, als Machtzentrum, um in Richtung Ausstieg. Das wurde von Teilen ihres Umfelds aufgegriffen, verstärkt, umgesetzt und von weitgehend allen anderen einschließlich der Industrie übernommen. In all den Jahren seither grummelte es immer mal wieder irgendwo, aber die allermeisten Verantwortlichen in Deutschland schwenkten auf die „richtige“ Linie um. Jetzt scheint sich gerade wieder etwas an dieser richtig/falsch-Vorgabe zu ändern, weil irgendwie die Energiesicherstellung für die nächsten Jahre nicht klar ist, so dass aus dem „richtigen“ Atomausstieg nach und nach eine „falsche“ Entscheidung wird. Dieses Beispiel demonstriert den richtig/falsch-Machtmechanismus und den richtig/falsch-Richtungswechsel.

Frank Schätzing, der bekannte Schriftsteller und Sachbuchautor, nimmt in seinem jüngsten Buch „Was, wenn wir einfach die Welt retten? – Handeln in der Klimakrise“ Bezug auf diese Zusammenhänge, wenn er Fridays for Future empfiehlt, und zwar dringend, die normale Bevölkerung für ihre Ideen zu gewinnen. Sie sollen dafür ihr Auftreten freundlicher gestalten und weniger Angst verbreiten. Damit die Bevölkerung ihre „falschen“ Ansichten aufgibt und zu den „richtige“ überläuft. Er empfiehlt also, richtig und falsch zur gesellschaftlichen Machtdimension zu machen, damit sich etwas verändert – er spricht in diesem Zusammenhang von Revolution. Ich ziehe hier überhaupt nicht in Zweifel, dass die Klimaveränderungen die größte Bedrohung unserer Zeit sind, und vielleicht ist der von Schätzing vorgeschlagene tatsächlich der einzig verbleibende mögliche Weg zur Freisetzung der erforderlichen Aktivitäten und Energien, sondern ich führe seine Gedanken als Beispiel der richtig/falsch-Mechanismen an. Offenbar hat der Mann seinen Lenin gelesen, nach dem die entscheidende Frage jeder Revolution die Frage der Macht ist. Richtig ist, was die meisten für richtig halten. Und daraus entsteht Macht, aus einer Idee wird eine Massenbewegung.

So viel also zunächst mal zu einigen wichtigen Zusammenhängen und Mechanismen. Niemand muss diese Sichtweisen teilen, aber jeder sollte zumindest mal drüber nachdenken. 

Wie können wir richtig/falsch gelassen handhaben?

Nun beschäftige ich mich noch mit einigen Punkten des Umgangs mit dem richtig/falsch-Phänomen. Welche Haltung können wir dazu einnehmen? Wie können wir uns verhalten?

Zunächst ein grundsätzlicher Vorschlag:

Betrachten wir richtig und falsch nicht als absolut, sondern als „Annäherungsproblem“.

Wir sollten einfach davon ausgehen, dass in jedem „richtig“ auch ein Stückchen „falsch“ steckt und umgekehrt. Das bietet zweierlei Vorteile:

Erstens öffnen wir uns für andere Sichtweisen und entgehen der Missbrauchsfalle. Ich kann meine Ansicht für richtig halten, gehe aber stets auch davon aus, dass daran etwas falsch sein könnte. Das muss mich keineswegs verunsichern, sondern es bewahrt mich davor, alle anderen Auffassungen von vornherein und vehement als falsch einzustufen. Ich kann mich trotzdem kraftvoll für das engagieren, was ich für richtig halte, erlaube aber anderen Menschen deren eigene Sicht und Handlungsoption. Daraus kann ein gesunder Wettbewerb entstehen, der am Ende alle voranbringt. Allerdings sollte ich aufpassen, dass mein Wettbewerber nicht seinerseits richtig/falsch-Missbrauch betreibt und meine Ansicht in die falsch-Ecke drückt. Bedeutet, ich streite nicht bis zum Exzess um mein „richtig“, sondern ich streite mit aller Konsequenz für Toleranz.

Zweitens erlaubt mir diese Haltung das systematische Hinterfragen meines „richtig“, etwa die Einbeziehung neuer Erkenntnisse aus Wissenschaft und Technik, und kann erforderlichenfalls Korrekturen in meinen Positionen und Herangehensweisen vornehmen. Ich werde mich, wenn ich richtig/falsch als Annäherung an die Wirklichkeit verstehe, in kleinen Schritten vorwärtsbewegen, immer wieder die Zwischenresultate mit der Realität abgleichen und auf diese Weise größere Irrwege vermeiden. Dieses iterative Vorgehen ist nicht nur effizient, sondern sichert auch am Ende die besten Ergebnisse. Es erlaubt Korrekturen und schafft Anschluss für Kompromisse mit anderen Auffassungen.

Beide Vorteilsaspekte haben eine große Bedeutung im Alltag, sowohl im Beruf als auch in Familie: Sie nehmen andere mit! Mit einer solchen Grundhaltung werden wir nicht nur über gute Zusammenarbeit und Teamgeist reden – das bloße Reden darüber und gegensätzliches Handeln ist ja in vielen Alltagssituationen noch an der Tagesordnung – sondern wir schaffen mit ihr die Voraussetzungen dafür.

Der richtige Umgang mit „falsch“ kann „falsch“ richtig machen 

Zugegeben, das klingt jetzt etwas kryptisch, ist aber ein wichtiger Ansatz für den beruflichen Alltag und für Führungskräfte. Wenn ich dafür einen anderen Begriff wähle, wird klarer, was ich meine: Fehlerkultur.

Fehlerkultur ist in Unternehmen ja immer mal wieder in aller Munde, vor allem dann, wenn etwas gründlich schiefgelaufen ist. Oder wenn ein neues Qualitätsbewusstsein geweckt werden soll (was überhaupt nicht geht, aber das ist ein anderes Thema, vielleicht mal in einem neuen Essay). Meist kommt Fehlerkultur als Schlagwort daher, als Vorgabe an richtiges Verhalten. Fehler sind Chancen! Über Fehler muss man offen sprechen! Fehler kann man machen, aber nicht zweimal! Das sind solche, gerne verwendeten Slogans. Sie implizieren – wenn wir genau hinschauen – ein „richtig“. So soll man sich verhalten. Es führt häufig leider dazu, dass die Menschen nur so tun, als verhielten sie sich im Sinne der neuen Fehlerkultur. Und warum? Weil sie richtig und falsch immer noch zu sehr als absolut betrachten, weil sie nicht verstehen, dass in jedem „falsch“ auch ein Stück „richtig“ steckt. Dieses Stückchen „richtig“ könnte man im „falsch“ finden, verstärken und nutzbar machen. „Fehler produktiv machen!“, könnte ein guter Slogan dafür sein. 

Ein praktischer Tipp

Trotzdem kommt jeder, der Verantwortung trägt, in Situationen, in denen er richtig/falsch-Setzungen vornehmen muss. Wenn es um die Bestimmung von Zielen geht, wenn es um Orientierung für uns selbst und für Mitarbeiter geht, wenn es um Bewertungen geht, überall spielt die Entscheidung darüber, was richtig und was demzufolge falsch ist, eine Rolle. Von einer Führungskraft wird die richtig/falsch-Setzung erwartet, gehört quasi zum Rollenbild.

Wie sichere ich nun, dass ich diese Entscheidung schnell und überzeugend treffe? Und das, obwohl ich um die Möglichkeit des Irrtums und um die Missbrauchsgefahr weiß. Es gibt dazu zwei Möglichkeiten, die wir beide nutzen müssen. 

Erstens sollten wir uns um eine möglichst breite Faktenlage und deren gründliche Analyse bemühen. „Frag die Wissenschaft!“ Aber wir werden merken, dass wir hierbei früher oder später an Grenzen geraten und auch eine heute eindeutige Faktenlage morgen obsolet sein kann. 

Die zweite Möglichkeit besteht darin, möglichst viele Menschen in die richtig/falsch-Diskussion einzubeziehen. Wir können – und das empfehle ich ausdrücklich – sogar so weit gehen, richtig/falsch nicht als Faktum zu verstehen, das man setzt und dann basta, sondern als Prozess, den wir gestalten können. Wir diskutieren die richtig/falsch-Frage, bewerten sie in Abständen neu, korrigieren und passen an. Damit verliert richtig/falsch seinen Absolutheitsanspruch und wird pragmatisch. Außerdem wird sie – nach Diskussion – von vielen getragen. Ich entscheide zwar, aber in einer Atmosphäre von Akzeptanz.

Nicht richtig und falsch sind wichtig, sondern wie wir damit umgehen!