Form versus Inhalt - ein ewiges Thema

Es ist wohl ein bisschen wie die Geschichte von Henne und Ei. Was war zuerst da? Was ist wichtiger, der Inhalt oder die Form? Es gibt für beides Argumente. Je nach eigenem Standpunkt oder eigenen Präferenzen mag mal das eine obenauf sein, mal das andere. Eines ist indes gewiss: Das eine kann nicht ohne das andere. Form und Inhalt gehören zusammen. Irgendwie. Sonst ist es inhaltsleer oder formlos. Oder beides. Geht das überhaupt?

Inhaltsleer und formlos ist NICHTS, existiert quasi nicht. Dieses Nichts muss sich mit Etwas füllen, mit einem Inhalt. Und dieser Inhalt muss eine Form annehmen, sonst könnte man ihn nicht wahrnehmen. Andererseits muss eine Form sich mit Inhalt füllen, ansonsten ist sie sinnlos.

Eine Diskussion über Kleidungsvorschriften

Bevor wir uns jetzt aber in einem philosophischen Dickicht verlaufen, sollte ich vielleicht zunächst ein Beispiel anführen. Wir hatten vor Jahren eine ziemlich langwierige Diskussion im Kreise meiner Kolleginnen und Kollegen bei Humanagement. Es ging um die Frage, ob wir, also die männlichen Wesen in dieser Runde, Krawatte tragen sollten oder nicht. Ob wir das beim Kundenbesuch oder auch in unserem eigenen Büro tun sollten. Und ob wir das in einer Firmenvorschrift – damals wurden gerade allerorten Qualitätsmanagement-Handbücher geschrieben und natürlich auch bei uns – festlegen sollten.

Die Diskussion verlief ausgesprochen zäh. Alle warteten offenbar auf eine „Chefentscheidung“. Aber ich weigerte mich. Ich wollte, dass sich jeder selbst mit diesen Fragen auseinandersetzte und dazu eine eigene Position bildete. Ich stellte dann die Frage in die Runde, was denn von uns erwartet würde, wenn wir als Berater bei Kunden auftreten. An dieser Stelle sollte ich einflechten, dass diese Diskussion um die Jahrtausendwende herum ablief, also vor etwa zwanzig Jahren. Die Antwort der Kollegen kam sehr schnell und eindeutig: Krawatte muss sein! 

Die Jüngeren versuchten dann noch ein für sie günstigeres Verhandlungsergebnis zu erzielen: Anzug muss aber nicht sein, Jeans und Blazer müssten doch reichen. Die Älteren bestanden auf Anzug. Und wieder schaute alles erwartungsvoll in meine Richtung, ob ich denn nun endlich eine Entscheidung fällen würde. 

Geht es um „richtig“ oder um „angemessen“?

Stattdessen warf ich in das betretene Schweigen hinein die Frage auf, für wen wir uns da eigentlich anziehen. Wollen wir uns bei der Wahl unseres Outfits von Fremden beeinflussen lassen, uns irgendwelchen Formvorschriften beugen oder geht es eher um die Frage, wer wir eigentlich sind, wenn wir arbeiten? 

Das gab der ganzen Diskussion noch einmal eine andere Wendung. Um es kurz zu machen, wir einigten uns schließlich darauf, dass es nur um Angemessenheit geht. Um die Angemessenheit, mit der wir unsere berufliche Professionalität (Inhalt) durch die Form unserer Kleidung ausdrücken können. Wir folgten der Idee, dass die Form den Inhalt unterstützen soll, dass sie ihm entsprechen soll. Man kann das natürlich auch anders sehen, aber für uns war diese Sichtweise damals sehr nützlich. Schließlich ist es offenkundig, dass die Kleidung eines Handwerkers nicht nur funktional, sondern auch im Ausdruck und in ihrer Wirkung anders sein muss als die eines Unternehmensberaters, Hochschulprofessors, eines Kochs oder eines Busfahrers. Für jeden dieser Berufe, wie auch für alle anderen, gibt es angemessene und unangemessene Bekleidung.

Angemessenheit ist ein Kompromiss zwischen ICH und den ANDEREN

Als wir in unserer Diskussion damals, vor mehr als zwanzig Jahren, an diesem Punkt angekommen waren, stand die Frage im Raum, wer denn nun eigentlich festlegt, was angemessen ist. Um dort nicht wieder von vorne anzufangen, habe ich dann sehr schnell entschieden, dass das jeder meiner Kollegen für sich selbst wissen muss und auch kann. Jeder hat seine persönlichen Vorlieben – das wäre das eine Kriterium. Und jeder kennt die Erwartungen, die die Kunden an seine Tätigkeit und die damit verbundenen Formvorstellungen haben – das wäre das andere Kriterium. Und mit diesem Ansatz ging dann jeder los und tat, was er für angemessen hielt. Im Ergebnis lagen wir alle nicht sehr weit auseinander, wenn es in der Zukunft auch durchaus individuelle Unterschiede gab.

Allerdings knabberte nun jeder von uns – ich eingeschlossen – an einer ziemlich kniffligen Frage herum. Wie wichtig konnten wir unsere eigenen Vorlieben nehmen, beziehungsweise wie viel Rücksicht sollten wir auf die Erwartungen unseres Umfelds nehmen, auf die Gepflogenheiten, auf die Regeln, die in der Gesellschaft, in unserem Falle im Businessalltag herrschten? 

Am Ende läuft die Antwort immer ganz pragmatisch darauf hinaus, wie abhängig wir selbst von unserem Umfeld sind. Ich selbst habe – das war noch ein paar Jahre früher – einen Auftrag verloren, weil ich nicht das vom Geschäftsführer des Kunden erwartete Auto fuhr. Das war ziemlich schmerzvoll damals, zumal in den Auftrag auch ein paar Mitarbeiter eingebunden waren. Ich habe dabei gelernt, dass eine Entscheidung über die angemessene Form auch davon abhängt, welche Verantwortung ich in meiner Rolle zu tragen habe. 

Heute neige ich dazu, Formentscheidungen direkt mit dem Thema Verantwortung zu verbinden. Wer bewusste und angemessene Entscheidungen über sein Outfit, sein Auftreten und die gestaltung von Rahmenbedigungen trifft, übernimmt Verantwortung. Wer diese Dinge nicht beachtet, sie laufen oder von anderen für sich entscheiden lässt, ist verantwortungslos.

Der Maßstab für Angemessenheit ist dehnbar und ändert sich

In den Jahren danach änderte sich bezüglich Businesskleidung einiges – um noch etwas bei diesem Thema zu bleiben. Etwa zehn Jahre später trug bei unseren Kunden selbst im Topmanagement niemand mehr Krawatten, außer es gab besondere Anlässe oder offizielle Besucher. Die Businesswelt hatte sich von bis dahin geltenden Formgepflogenheiten entfernt. Es gab neue Erwartungen an die Businesskleidung, funktionaler, bequemer. In einigen Branchen gehörte es sogar zum guten Ton, eher super leger aufzutreten, wie es einige Jahre zuvor undenkbar gewesen wäre. Also veränderte sich auch das Erscheinungsbild der Unternehmensberater und meiner Mitarbeiter. 

Das Erwartungsfeld unserer Umgebung, unserer Kunden und insgesamt der Gesellschaft hatte sich verändert. Die Angemessenheit der Form definiert sich fortwährend neu, auch wenn die Inhalte, sprich unsere Themen und der erwartete Grad der Professionalität unverändert bleiben. Aber auch die ganz individuelle Positionierung zur Form, also die persönlichen Vorlieben und Ansprüche, ändern sich im Laufe der Zeit und mit den eigenen Lebensumständen. Was ich als junger Mensch gut finde, hat nicht unbedingt bis ins Alter Bestand.

Die Anforderungen an die Form bewegen sich im Laufe der Zeit wie ein Pendel um einen imaginären Mittelpunkt. Mal sind sie streng und kompromisslos, mal eher beliebig. Beides birgt seine Gefahren. Strenge Formvorschriften beengen die Kreativität und die freie Entfaltung des Inhalts. Laxe Formauffassungen führen zu Strukturlosigkeit, lassen die Inhalte ausufern und gefährden den Fokus. Zu allen Zeiten das richtige Maß zwischen Form und Inhalt zu finden, zeichnet kluge Menschen und eine kluge Gesellschaft aus. Aber wer ist schon klug? Eben weil die Entscheidung über die Angemessenheit der Form im Kontext des Inhalts immer im Spannungsfeld zwischen individuellen Vorlieben und Freiheiten einerseits und den Erwartungen des Umfelds, den Gepflogenheiten andererseits getroffen werden muss, ist sie so schwierig. Welches ist das richtige Outfit fürs Vorstellungsgespräch? Soll ein angehender Gesundheitsminister zur Vereidigung beim Bundespräsidenten eine Krawatte umbinden? Was ziehe ich ins Theater an oder wenn ich in die Oper gehe? Am Ende geht es dabei immer um die Entscheidung, wie ich mich persönlich gegenüber den Anforderungen eines Erwartungsfelds positionieren will. Passe ich mich an oder will ich auffallen, den Rahmen sprengen, Regeln verletzen? Wofür stehe ich bei meinem Auftritt? Für mich selbst oder für die anderen?

Es ist leichter, durch Formverletzung als durch inhaltliche Beiträge aufzufallen 

Es ist nicht verwunderlich, dass eine sich immer stärker individualisierende Gesellschaft das Erwartungsfeld ausweitet, es lockert. Mehr und mehr „Regelbrecher“ treten in Erscheinung. Regelbruch wird geradezu erwartet. Es geht darum, aus der Masse herauszuragen, auffällig zu sein. Da es in der Regel einiger Anstrengungen bedarf, durch besondere Inhalte und überragende Leistungen aufzufallen, wird der leichtere Weg gewählt, muss immer öfter der Formbruch herhalten, um die Individualität herauszustreichen. Der Unterschied macht uns erkennbar. Es lebe das Schrille. Wir wollen um keinen Preis konform sein. Wir dürfen es noch nicht einmal, wenn wir wahrgenommen werden und etwas wert sein wollen. 

Upps, erkennen wir an dieser Stelle ein neues Dogma? Wird es jetzt etwa ein Muss, anders zu sein? Wird das die neue gesellschaftliche Erwartung? Mitunter könnte man diesen Eindruck bekommen. Dagegen zu sein scheint in Mode zu kommen. In unseren Zeiten gewinnt die Form einen höheren Aufmerksamkeitswert als der Inhalt.

Noch ein paar Schritte weitergedacht

Wir folgen auch hier wieder dem Erwartungsfeld, indem wir den Formbruch zum Ziel und Zweck unseres Handelns erheben. Wenn „alle“ machen, was sie selbst für richtig halten, also sich nicht an die Vorgaben der Eltern, der Firma oder des Staates halten, dann muss ich das auch tun. Erst dann glaube ich, etwas Besonderes zu sein. Dabei merke ich gar nicht, dass ich wiederum nur einem Klischee, einer Erwartung der anderen, einer für mich wichtigen Gruppe, der Allgemeinheit folge. Ich bilde mir nicht wirklich eine eigene Meinung, sondern folge fremden Dogmen. Und merke es noch nicht einmal.

Was wir hier am Thema Form beobachten, dieses Muster unreflektierten Folgens ohne wirkliche eigene Meinungsbildung, erstreckt sich auch auf inhaltliche Fragen. Wir demonstrieren für Klimawandel, sind für oder gegen eine Impfpflicht, in jedem Falle gegen Atomkraft und unbedingt gegen alles, was die Regierung vorgibt. Nur wenige bilden sich tatsächlich eigene Standpunkte zu diesen Fragen, die wenigsten könnten das überhaupt. Vielleicht gibt es noch nicht einmal eine reale Möglichkeit einer wirklich objektiven Meinungsbildung, weil alles viel zu komplex und in sich widersprüchlich ist?

Wenn das so wäre, dann werden wir damit leben müssen, dass es zu jeder Sache verschiedene legitime Standpunkte gibt, egal ob bei Form oder Inhalt. Und diese Vielfalt verschiedener Ansichten – es sind eben keine fundierten Meinungen, sondern lediglich Ansichten – müssen wir aushalten. Das bedeutet, nicht auf Menschen mit anderer Ansicht loszugehen. „Kann sein“, „vielleicht“, „schau‘n mer mal“ sind möglicherweise bessere Reaktionen als „ich habe recht“ oder „du liegst falsch“. 

Wenn wir uns aktuell die überhitzten Diskussionen in den Medien, auf Demonstrationen und mitunter gar im Freundeskreis anschauen, scheint es genau darum zu gehen: zu lernen, als unumstößliche Meinung Geäußertes, Herausgeschrienes als Ansicht stehen zu lassen, ohne es zu teilen, aber auch ohne es zu bekämpfen. Sicher muss man dabei aufpassen, dass diese Toleranz nicht zur Vereinnahmung durch die andere Ansicht interpretiert wird oder gar dazu führt, aber auch hier geht es wieder um Angemessenheit. Diese Angemessenheit im Umgang mit anderen Ansichten braucht persönliche Gelassenheit. Diese wiederum kann nur in einer Atmosphäre von Sicherheit entstehen. Verunsicherte Menschen können nicht gelassen sein, sondern werden immer überhitzen. Wenn die Regierung also etwas dafür tun will, dass sich die Stimmung im Lande abkühlt, dann sollte sie alles für ein Gefühl der Sicherheit tun.