Führen oder Folgen

Es gibt eine interessante Übung, die mitunter in Teambuilding-Workshops gemacht wird. Die Mitglieder einer Gruppe sollen mit verbundenen Augen ein an den Enden zusammengebundenes Seil von etwa 15 Metern Länge so auf dem Erdboden ablegen, dass ein Quadrat entsteht. In den meisten Fällen gelingt dies nicht besonders gut, weil einfach zu viele der Teilnehmer Anweisungen geben. Das Erstaunen ist dann immer groß, wenn die Augenbinden abgenommen werden und man sich das Ergebnis betrachtet, bzw. das, was ein Ergebnis sein soll. Krumm und schief. Und es ist dann meist nicht mehr weit bis zu dem Punkt, an dem sich die Anführer des Prozesses gegenseitig die Schuld dafür zuschieben.

Das Erstaunen wird aber noch größer, wenn die Übung wiederholt wird, aber unter der Vorgabe, dass nur ein Teilnehmer die Anweisungen gibt und alle anderen einfach das machen, was er sagt. Selbst wenn man für diese Führungsaufgabe denjenigen auswählt, der über das geringste Führungstalent besitzt, ist das Ergebnis immer besser als beim ersten Durchgang.

Dieses Beispiel stützt die These, für ein gutes Ergebnis ist Folgen wichtiger als Führen.

Das steht etwas im Gegensatz zu der landläufigen Auffassung und Bewertung von Führung. Nach dieser ist Führung das Wichtigste überhaupt, das Nonplusultra der Wirtschaft. Führer sind hoch angesehen. Führen wird als erfolgsentscheidend betrachtet. Erfolge werden in erster Linie dem Spitzenmann zugeschrieben, im Falle von Misserfolg muss er gehen. Karl-Thomas Neumann hat in dieser Woche verkündet „ICH werde Opel zu neuer Größe führen“. Da kann er nur hoffen, dass ihm viele folgen, sonst wird das nämlich nichts. Vielleicht wäre es angemessener und klüger gewesen zu sagen „WIR werden Opel zu neuer Größe bringen“.

Nach aller praktischen Erfahrung ist es entscheidend, dass dem Führer jemand folgt. Sicher muss die vorgegebe Richtung stimmen und es ist wichtig, dass klare Anweisungen erteilt werden. Das gehört zweifelsfrei zu guter Führung. Aber wenn das erfüllt ist geht es darum, dass die Mitarbeiter sich auf den Weg machen und die Vorgaben engagiert erfüllen, dass sie „folgen“.

Das sollte uns veranlassen, das Thema Führung einmal von der anderen Seite zu betrachten, nämlich von der Seite der Geführten. Wann und warum folgen sie? Wann und warum widersetzen sie sich? Wann und warum machen sie nur Dienst nach Vorschrift? Warum wird bei den unterschiedlichsten Befragungen immer wieder festgestellt, dass nur ein geringer Prozentsatz der Mitarbeiter in deutschen Unternehmen, zumal in Großunternehmen, wirklich motiviert und gern arbeitet? Liegt das möglicherweise daran, dass zu wenig über den Mechanismus des Folgens nachgedacht wird? Liegt es daran, dass in unserer Gesellschaft alle führen und nur wenige folgen wollen, weil Gefolgschaft in unseren Vorstellungen negativ belegt ist?

Und trotzdem gibt es immer wieder Führungskräfte, denen die Menschen gern und sogar mit Begeisterung folgen. Selbst wenn es ihnen unbequem ist. Da muss man noch nicht einmal Steve Jobs als Beispiel bemühen. Oft genügt es, in seine unmittelbare Umgebung zu schauen und man wird Persönlichkeiten entdecken, die durch ihr Verhalten, durch ihr Vorbild und die Übereinstimmung von Wort und Tat Vertrauen aufbauen, Sinn entwickeln und vermitteln und denen die Menschen gern folgen.

Es ist also durchaus empfehlenswert darüber nachzudenken, was ich als Führungskraft tun muss, damit meine Mitarbeiter mir folgen. Dann werde ich mich um meine Leute kümmern, mehr mit ihnen sprechen, sie verstehen und ihnen sorgfältig den Sinn unserer Arbeit und unserer Ziele erklären. Ich werde „nah am Menschen arbeiten“. Und dann werden sie sich entscheiden, mir zu folgen. Wohlgemerkt: sie entscheiden das. Ich kann es nicht einfordern, ich muss darum werben.