Kühler Kopf und heißes Herz

Niemand bleibt von dem Leid der Menschen in der Ukraine unberührt. Die Bilder und Berichte, auch die Appelle des ukrainischen Präsidenten bewegen uns emotional. Wir empören uns über die Invasoren und haben Mitgefühl mit den betroffenen einfachen Menschen. Wenn wir ehrlich sind, plagt es uns jedoch auch, dass wir in all den zurückliegenden Jahren so blauäugig waren, an eine Welt voller Liebe und Harmonie zu glauben, in der Kriege unmöglich schienen. So ist eine Situation entstanden, die einen Aggressor ermutigt hat und zur Tat schreiten ließ.

Eine Bekannte war von den Ereignissen so aufgewühlt, dass sie Anfang März einen Kleinbus mietete und kurzerhand durch Polen an die ukrainische Grenze fuhr, um „Menschen zu retten“, wie sie mit Tränen in den Augen am Vorabend ihrer Abfahrt verkündete. Wir waren alle begeistert von ihrem Mut. 24 Stunden später rief sie mich an, völlig ernüchtert und mutlos. Sie war in polnische Grenzkontrollen geraten, die ihr Menschenhandel unterstellten, hatte dann schließlich doch noch Flüchtlinge getroffen, die aber ihre Hilfe nicht wollten, und am Ende war ihr das Benzin ausgegangen. Jetzt saß sie mutterseelenallein im Nirgendwo und war riesig enttäuscht. Ihr Enthusiasmus war verflogen. Sie wollte nur noch zurück.

Mir gab diese Sache sehr zu denken. Wohin führen uns Emotionen? Sind sie ein guter Ratgeber? Stiften sie Nutzen? Oder schaden sie uns? Vernebeln sie unseren Blick?

Mit ein bisschen Abstand konnte ich meine Gedanken dazu etwas sortieren. Emotionen haben eine große Kraft. Sie motivieren uns, überwinden Bedenken, reißen Barrieren nieder und regen uns zum Handeln an. Mehr noch, sie peitschen uns zur Tat. Das ist gut so, denn es lässt uns unmöglich Geglaubtes in Angriff nehmen, uns über uns selbst hinauswachsen. Gleichzeitig verstellen starke Emotionen unseren Blick auf wichtige Teile der Realität, die uns zur Vorsicht gemahnen. Wir übersehen Gefahren, überschätzen unsere Kräfte, schlagen Warnungen in den Wind oder hören sie einfach nicht. Wir bedenken die Konsequenzen unseres Handelns nicht. Das kann dazu führen, dass unsere guten Absichten scheitern und sich vielleicht sogar ins Gegenteil kehren.

Emotionen werden durch Bilder ausgelöst, Bilder, die wir sehen, oder Bilder, die in unserem Kopf entstehen, wenn wir bestimmte Worte hören. Über diese Mechanismen kann man Emotionen erzeugen. Damit lassen sich Menschen motivieren und anstacheln, aber auch zu Unbedachtheit verleiten. Menschen, die diese Mechanismen nutzen, um andere für ihre eigenen Ziele zu bewegen, nennt man Demagogen. Sie rufen zum Widerstand auf, appellieren an Heldentum, fordern Vergeltung, aber sie verschweigen die Alternativen, die solches Handeln hervorruft.

Schauen wir uns den Gegenspieler der Emotionen an, die Rationalität. Sie kommt kühl daher, kalkuliert, plant und berechnet Wahrscheinlichkeiten. Sie spielt Szenarien durch, misst Kräfteverhältnisse und führt Bedenken ins Feld. Für Menschen, die gerade emotionalisiert sind, ist das grauenvoll. Sie fühlen sich in ihrer Begeisterung für eine Sache gebremst und kämpfen wütend gegen die Rationalisten an. Diese Auseinandersetzung ist hochemotional, wird persönlich ausgetragen und führt zu mehr Empörung, mehr Emotionalität – und Blindheit für Teile der Wirklichkeit. Medial sind die Rationalisten immer im Nachteil, weil sie nur zu leicht als kaltherzig und böse gemalt werden können. Während Rationalisten sich als Stimme der Vernunft betrachten, sind sie für die Emotionalisten Parteigänger des Bösen.

In der aktuellen Situation brandet der Kampf zwischen Ratio und Emotio wieder auf. Im Moment scheint die Emotionalität zu überwiegen, zumindest in den Medien, die ja damit – das muss man sich immer wieder in Erinnerung rufen – ihr Geld verdienen. Glücklicherweise gehören die Entscheider in Politik und Wirtschaft, bis auf wenige Ausnahmen, dem Lager der Rationalisten an. Aber noch ist nicht entschieden, wer am Ende die Oberhand gewinnt, die Verkünder des Heldentums, die die Menschen bewegen und zu außergewöhnlichen Taten inspirieren, oder die kühl kalkulierenden Kopfmenschen, die Strategien entwickeln und Ressourcen sichern. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wem ich zuneigen soll. Mein „Bauch“ ruft mich zu den Emotionalisten, mein „Kopf“ warnt mich vor ihnen. Meine Vernunft favorisiert die Rationalisten, mein Herz misstraut ihnen.

Am Ende kann niemand von uns bestimmen, wohin sich die Schale neigt. Sicher ist nur, dass wir alle, die einfachen Leute, das Ergebnis ausbaden müssen. Das nennt man dann Schicksal. Für eine friedliche Zukunft, die wir alle erhoffen, wird uns wohl nichts anderes übrigbleiben, als Stärke zu entwickeln. Denn Frieden kann nur der Starke sichern. Er soll seine Waffen nicht benutzen, denn dann macht er Krieg, aber er soll sie zeigen, um den Aggressor abzuwehren. Wir können das Böse in der Welt nicht ausrotten, aber wir können verhindern, dass es Schaden anrichtet – vielleicht.

Zum Schluss sei mir noch ein Schwenk in die Welt unserer Unternehmen gestattet. Wenn wir die Mitarbeiter motivieren wollen, mitreißen und zu großen Leistungen anspornen, dann müssen wir emotional agieren. Wenn wir die Ziele erreichen wollen, dann müssen wir rational vorgehen. Beides ist nötig, keines kann ohne das andere. Das gilt im Großen wie im Kleinen. Die dafür in den verschiedenen Situationen jeweils nötige Balance herzustellen, das könnte man „Gute Führung“ nennen.