Nach der Industriegesellschaft kommt die virtuelle Welt

Die gängige Vorstellung von Industrialisierung ist an das sogenannte Sektorenmodell von Jean Fourastié geknüpft. Im primären Sektor dominieren Landwirtschaft und Rohstoffgewinnung, im sekundären die Produktion von Gütern (Industrie), im tertiären die Dienstleistungen, im quartären dann die Freizeitwirtschaft und im quintären die Abfallwirtschaft. Es gibt aber noch eine andere Sicht, in deren Mittelpunkt das wertschöpfende Merkmal der Industrieproduktion steht, nämlich die Standardisierung und Automatisierung von Prozessen zum Zwecke der Effizienzerhöhung. Darunter fällt alles, was wir mit Begriffen wie Rationalisierung, Arbeitsteilung, Wachstum, Globalisierung, Hierarchie, Kapitalkonzentration und so weiter verbinden. Industrialisierung ist nach dieser Betrachtung eine besondere Art und Weise, Prozesse der Wertschöpfung durchzuführen.

Dieses Merkmal zieht sich durch nahezu alle Bereiche der Wirtschaft. Landwirtschaft wird – in diesem Sinne – industriemäßig durchgeführt. Die Touristikbranche ist standardisiert und automatisiert. McDonald’s füttert die Leute industriemäßig ab, vom Einkauf über die Herstellung der Bouletten bis zum Verkauf in den Stationen. Selbst Luxusartikelhersteller nutzen die Prinzipien industrieller Distribution und Warenwirtschaft, um Effizienz zu erzeugen.

Häufig können wir lesen, das Industriezeitalter sei vorbei. Was jetzt kommt, ist die Dienstleistungsgesellschaft. Oder doch eher die Freizeitgesellschaft? Oder der sechste Kondratieff, also die Healthcare-Epoche? Oder das biologische Zeitalter? Oder gar reine Spiritualität?

Ich glaube das alles nicht. Wenn man sich schon spekulativ damit befasst, was da so auf uns zukommen könnte, lohnt vielleicht ein Blick zurück? Wo kommt denn die Industriegesellschaft her?

Die Industrialisierung wurde ausgelöst durch die davor liegende Periode der Renaissance. Und das war eine äußerst interessante Zeit, die viele Parallelen zu heute aufweist. Die Renaissance war extrem innovativ. Während nur 200 Jahren, nämlich im Wesentlichen zwischen 1500 und 1700, wurden alle bis dahin herrschenden Weltbilder und Dogmen zerstört und durch neue ersetzt. Plötzlich war die Erde nicht länger eine Scheibe und der Mittelpunkt des Universums. Als Dreh- und Angelpunkt war sie über Jahrhunderte in den Köpfen der Menschen festgenagelt gewesen und hatte den Aufbruch zu neuen Ufern gebremst. Deshalb wurde das alte Weltbild beseitigt, durch das kopernikanische ersetzt und von Kolumbus in der Praxis bestätigt. Wissenschaft und Technik, Handel und Gewerbe konnten sich nun ungehemmt entfalten. Eine Globalisierung im wahrsten Sinne des Wortes brach an.

Die Renaissance brachte auch eine Reihe von Schlüsseltechnologien entweder hervor oder zum Durchbruch. Die Erfindung und rasante Verbreitung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern steht hier an prominenter Stelle, da sie eine Bildungsbewegung ungekannten Ausmaßes auslöste, Wissenschaft und Technik beschleunigte und die Gesellschaft als Ganzes extrem veränderte. Die Menschen unterschieden sich in solche, die Lesen und Schreiben konnten und damit am Fortschritt teil hatten, und solche, die auf dem Abstellgleis landeten. Der Magnetkompass öffnete der Schifffahrt neue Wege. Die mechanische Uhr bildete die Basis für eine neue Messtechnik, die Transport und Verkehr schließlich revolutionierte. Man könnte hier noch viele Beispiele anführen, aus Kunst und Architektur, aber auch aus dem Bereich der Religion mit der fortschreitenden Säkularisierung.

Kurz gesagt: Es kam zu einer Explosion von Möglichkeiten, deren Benutzung über einen Zeitraum von 200 bis 300 Jahren zur heutigen Industriegesellschaft führte. Diese Möglichkeiten hatten ein gemeinsames Merkmal: Überall standen Prozesse im Fokus. Herstellungsprozesse, Verteilungsprozesse, Denkprozesse. Prozesse wurden entwickelt. In Prozesse wurde Geld gesteckt. Prozesse wurden zum Gegenstand von Verbesserungen.

Es gibt viele Parallelen, oder besser Analogien, zwischen der Renaissance und unserer heutigen Welt. Schlüsseltechnologien entstehen hier wie dort. Damals Buchdruck, heute Internet. Damals die mechanische Uhr, heute Produkte der Nanotechnologie. Damals chemische Verfahren, heute Mikrobiologie. Damals Säkularisierung, heute die Individualisierung der Gesellschaft.

Während für den Siegeszug der Industrialisierung Prozesse im Mittelpunkt standen, rücken heute die Informationen in den Mittelpunkt. Wer die Informationen beherrscht, wird in der Zukunft die Nase vorn haben. An dieser Stelle denken wir natürlich zuerst an die Beherrschung von Datenströmen, an Datenautobahnen, an Informationsmonopole und so weiter. Dabei verfangen wir uns aber in den Denkmustern des Industriezeitalters. Gigantisch, beherrschend, prozesshaft, standardisiert. Genau das wird aber nicht entscheidend sein. Informationen sind viel zu kleinteilig, schlüpfen viel zu leicht durch alle Begrenzungen, mit denen wir sie beherrschen und uns, uns allein, gefügig machen wollen. Informationen sind so unstet, so fluktuierend und so schnell, dass man sie überhaupt nicht in den Griff bekommen kann. Sie bewegen sich in einer virtuellen Welt. Und nur dort wird man sie optimal nutzen können. Alle Versuche, Informationen an die Kette zu legen, werden scheitern, scheitern jetzt schon. Nicht umsonst wehrt die Welt sich gegen die beginnende Allmacht von Google. Die Musikindustrie musste ihre starren Monopolpositionen räumen. Zeitungsverlage müssen sich anpassen. Nicht zuletzt deshalb nimmt auch die Cyberkriminalität zu und muss mit völlig neuen Konzepten bekämpft werden.

Der Schlüssel zum Erfolg heißt Virtualisierung. Wenn die Musik zukünftig in den virtuellen Informationsräumen spielt, wird sich die Welt virtualisieren. Wertschöpfung wird zunehmend virtuell passieren, im Internet, in Netzwerk-Organisationen und mittels chaotischer Prozesse. Die Explosion der Möglichkeiten in der Renaissance führte zur Industrialisierung, die heutige Explosion ist der Start in die Virtualisierung der Welt. Sie können sich das nicht vorstellen? Natürlich nicht, ich auch nicht. Aber die Menschen der Renaissance konnten sich unsere heutige Welt auch nicht vorstellen.