Neue Eliten braucht das Land

Vor einigen Wochen saß ich eines Abends noch mit Freunden und Bekannten zusammen und die Diskussion drehte sich – wie häufiger in diesen Wochen – um das Thema Eliten. Es fielen die oft genannten Namen, von Ron Sommer über Peter Harz bis zu Herrn Zumwinkel und wie enttäuscht wir von denen waren usw. usw. Ein richtiges Lamento also über den allgegenwärtigen Verfall von Werten, Verantwortung, Moral und Ethik.

Plötzlich meinte einer in der Runde, der bis dahin geschwiegen hatte, „Was erwartet ihr eigentlich? Wie blauäugig seid ihr denn? Wir leben doch in einem System, das auf Konkurrenz baut. Und das ist auch gut so. Denn schließlich belebt die Konkurrenz das Geschäft und lässt es uns gut gehen. Aber Konkurrenz heißt nun einmal, besser und erfolgreicher zu sein als der Gegner, ihn über den Tisch zu ziehen, ihn aufzufressen. Und damit ist doch klar, dass an der Spitze eines solchen giergetriebenen Systems die Gierigsten sitzen. Diejenigen, die am Meisten hinter Erfolg und Geld her sind. Also braucht ihr euch doch nicht zu wundern, wenn die zuerst an sich selber denken. Und dort, wo sie Lücken finden oder die Macht und Möglichkeit haben, über die Stränge schlagen."

Ich selbst habe in den folgenden Tagen noch häufiger an diese Diskussion gedacht, immer dann, wenn in den Medien die Themen um Ethik und Verantwortung behandelt wurde. Und das scheint mir mit steigender Tendenz der Fall zu sein. So kam ich auf den Gedanken, den alljährlich stattfindenden Humanagement Visionstag unter das Thema „Neue Eliten braucht das Land“ zu stellen. Eingeladen waren die Humanagement Professionals, für welche diese Veranstaltung zu den kontinuierlichen Weiterbildungen zählt, sowie einige Manager aus befreundeten Firmen bzw. von Kundenunternehmen.

Zu den Besonderheiten bei Humanagement gehört es ja, derartige Veranstaltungen ohne vorgegebene Tagesordnung, ohne vorbereitete Vorträge und ohne im Voraus bestimmte Redner durchzuführen. Wir setzen stattdessen lieber auf „offenes Werden“ und folgen dazu einer modifizierten Form der Open Space Conference. Das animiert die Beteiligten, sich selbst stärker einzubringen und in besonderem Maße mit dem Thema zu beschäftigen.

Das Thema „Eliten“ wurde über die Maßen gut angenommen. Die aufgeworfenen Fragen drehten sich um den Elitebegriff, um die Erwartungen an Eliten, deren Verantwortung und Funktion in der Gesellschaft, wie Eliten sein müssen und um die Ausbildung von Eliten. Da bildete sich sozusagen das ganze Spektrum der gegenwärtigen Diskussion in der Gesellschaft ab und es wurde auch entsprechend kontrovers diskutiert. Am Ende gab es, wie kaum anders zu erwarten, kein einheitliches Ergebnis. Aber jeder nahm für sich einige wichtige Erkenntnisse, neue Gesichtspunkte, Anregungen und Fragen mit. Ich versuche hier, einiges davon thesenartig wiederzugeben.

  1. Unter dem Begriff Elite wird sehr viel Unterschiedliches verstanden. Diese Uneinheitlichkeit ist zu einem großen Teil für den Diskussionswirrwarr verantwortlich. Vielfach wird aneinander vorbei geredet, weil jeder ein anderes Bild von „Elite“ vor Augen hat. Die Einen verstehen darunter elitäre Zirkel, in die man nur schwer hineinkommt, was sie allerdings für sehr erstrebenswert halten. Andere denken an geistige und moralische Eliten. Häufig spricht man auch von Leistungseliten. Die Nächsten ordnen jeden, der seinem Umfeld voran marschiert und Maßstäbe setzt, zur Elite. Also auch die erfahrenen Meister mit großer Vorbildwirkung im Unternehmen.
     
  2. Elite kann sich nicht selbst definieren. Wenn jemand von sich sagt, dass er zur Elite gehört, berührt das eher peinlich. Jemand mit „elitärem Gebaren“ sondert sich von der Allgemeinheit ab und wirkt lächerlich. Die Vorstellung von Elite bildet sich eher im Bewusstsein eines gesellschaftlichen Systems oder Teilsystems. So definiert die Mafia ihre eigenen Eliten, die Kirche ebenso. An jeder Schule gibt es eine Elite unter den Schülern, nicht selbsternannt, sondern weil die anderen ihr folgen. Und dort hängt es vom kulturellen Konsens ab, ob das die guten Schüler oder die Rowdies sind. In jedem Falle aber unterscheidet sich Elite von „den Anderen“.
     
  3. Elite scheint ein kollektives Phänomen zu sein. Man kann es schlecht personifizieren bzw. gerät dabei sehr schnell in ein Dilemma. Jemand, der durch sein Handeln eindeutig zu irgendeiner Form von Elite zählt, tut gleichzeitig Dinge, die alles andere als im Sinne dieser Elite sind. Er gehört also zur Elite, bildet und prägt sie, gleichzeitig gehört er aber nicht dazu. Niemand kann Zeit seines Lebens mit all seinen Handlungen einem wie auch immer gearteten Eliteanspruch genügen. Trotzdem gehört er dazu, denn er trägt – sozusagen mit seinen guten Anteilen – dazu bei, dass die Elite ihre Funktion innerhalb des Systems erfüllt.
     
  4. Elite bezieht sich immer auf ein konkretes System, die Elite der Schule, im Unternehmen, in der Wirtschaft, im Sport, in der Kunst, in Deutschland oder in Europa. Eliten erfüllen in ihrem jeweiligen System ganz bestimmte Funktionen. Sie geben Sinn und setzen Maßstäbe, sind Vorbild für Andere. Eliten schaffen Vertrauen, man vertraut ihnen (deshalb sind wir wie die Kinder sauer, wenn ein Vertreter der Elite sich nicht so verhält, dass wir ihm weiter vertrauen können). Eliten eröffnen neue Perspektiven, gestalten Zukunft und überschreiten Grenzen. Und Eliten tragen Verantwortung, bürden sich mehr auf als Anderen.
     
  5. Es ist wichtig, für diese Funktionen von Eliten Bewusstsein zu schaffen. Die Gesellschaft muss die Eliten fordern, Ansprüche an sie stellen. Elite ist nicht von alleine gut, sondern muss quasi in ihre Rolle gezwungen werden. Und zwar von denen, die ihr folgen wollen. Es ist in gewisser Weise paradox: Wenn wir eine gute, starke Elite wollen, dann müssen wir sie dazu zwingen, gut und stark zu sein. Das funktioniert über den offenen gesellschaftlichen Diskurs, in dem die Medien eine herausragende Bedeutung haben. In einer offenen Gesellschaft wie der unseren, gibt es beste Chancen, Eliten in ihre Stärke zu treiben. Wir müssen es nur tun.
     
  6. Bei diesem Verständnis von „Elite“ ist völlig klar, dass das Konzept einer gesonderten Ausbildung von Eliten, etwa in Internaten und Eliteuniversitäten, Blödsinn ist. Häufig verkörpern gerade Menschen, die sich von unten hochgearbeitet haben, mehr Elite, als die über den Kamm einer Eliteschule geschorenen Kunstprodukte. Sie sind vom Leben und ihrem Umfeld geprägt. Und nur so kann man Eliten heranbilden, indem man möglichst vielen Menschen, jungen Menschen, die Chance gibt, das Beste aus sich zu machen. Dazu gehören Möglichkeiten und Freiheit genauso wie Anforderung und Erziehung. Und je mehr verantwortungsbewusste und fähige Menschen wir haben, desto stärkere Eliten werden sich daraus formen.