Neuronale Netze sind Denkfabriken

In jedem einzelnen künstlichen Neuron werden Daten auf spezifische Weise verarbeitet – und zwar immer auf die gleiche Weise, zum Beispiel verdoppelt – und dann an das nächste Neuron weitergeleitet. Dieses wiederum behandelt den Eingangswert auf seine spezifische, auch immer wieder gleiche Weise, indem es ihn zum Beispiel mit 0,1 multipliziert. Durch diese unterschiedliche Gewichtung können Neuronen hintereinandergeschaltet quasi als Regressionsgleichungen fungieren. Durch Rückkopplung können sie ihre Gewichtung verändern, so dass sie sich iterativ einem erwarteten Wert annähern. Sie lernen also und sind dadurch Grundlage für die Abbildung von Wirklichkeit. Also genau das, was zur Mustererkennung bei Bildern und Sprache benötigt wird. 

Durch die Vernetzung vieler unterschiedlicher, spezifischer Neuronen wird die Verarbeitung der Daten komplex, zumal das nicht nur in einer Ebene, sondern auch in verschiedenen Schichten (layers) geschieht. Die erste Schicht verwendet Originaldaten, zum Beispiel die Impulse einer Kamera, und reicht dann an die nächste Schicht einen aggregierten Wert weiter, so dass nach vielen Schichten ein Ausgabesignal für das neuronale Netz resultiert. Dazu kommt außerdem, dass die Verarbeitung der Daten in den Neuronen nicht Schritt für Schritt hintereinander geschieht, sondern parallel. Im Prozessor bildet sich also auf der Grundlage ganz einfacher Operationen eine Komplexität ab, die der Wirklichkeit von Bildern oder Sprache nahekommt.

Jetzt stellen wir uns vor, das neuronale Netz erkennt das Muster eines Stoppschilds. Die elektrischen Signale von der Kamera laufen durch den Prozessor hindurch und an der entscheidenden Ausgangsstelle kommt ein Signal an, weil es ja – wenn ihm ein Stoppschild-Muster zugrunde liegt – genau dort und genau mit einem erwarteten Wert ankommen muss. Dann löst die Künstliche Intelligenz eine Reaktion aus. 

Und hier wird es noch einmal spannend! Während ein biologisches Netz, also unser Gehirn, eine sogenannte Schwellenwertfunktion auslöst, also entweder „an“ oder „aus“ beziehungsweise „0“ oder „1“, können neuronale Netze differenzierter reagieren, zum Beispiel in Form einer Sigmoidfunktion. Auf den Auslöser hin wird dadurch der Bremsvorgang nicht ruckhaft ausgelöst, wie uns Menschen das häufig passiert, wenn wir überraschend ein Stoppschild erkennen, sondern allmählich beginnend und sich dann im erforderlichen Maße verstärkend. Das ist der Grund, warum teilautomatisiert fahrende Autos sehr angenehm abbremsen, jedenfalls sanfter, als die meisten Menschen.

Inzwischen gibt es hochkomplexe Anwendungen neuronaler Netze. So erkennen die Convolutional Neural Networks abstrakte Merkmale unter wechselnden Bedingungen, sind quasi vortrainiert und reichen nur in genau definierten Fällen Signale weiter, die dann weiterverarbeitet werden. Diese Netze sind eine der Grundlagen des autonomen Fahrens. Generative Adversorial Networks ermöglichen die Angleichung von Bildern im Computer an die Wirklichkeit (Schaffung von Avataren oder lebensechten Bildern nichtexistierender Personen) sowie computererzeugte Kunstwerke in einem künstlichen kreativen Prozess.

Und jetzt komme ich wieder auf das Geheimnis von Komplexität zurück, das mich bereits fasziniert hat, bevor ich mich mit Künstlicher Intelligenz oder neuronalen Netzen beschäftigt habe. Es sind ganz einfache, triviale Funktionen, aus denen sich bei vielfältiger Vernetzung komplexe Wirklichkeiten ergeben. Und Überraschungen. Nach diesem Prinzip funktionieren neuronale Netze, unsere Gehirne, die Belegschaften in Unternehmen und letztlich die ganze Gesellschaft. Komplexität ist grundsätzlich einfach!

Apropos Überraschung. Bisher war es ja den Gehirnen kreativer Menschen vorbehalten, ihre Umgebung mit immer neuen Ideen und Interpretationen zu überraschen. Jetzt schaffen das auch schon neuronale Netze, wie dies die Künstliche Intelligenz AlphaGo von Google DeepMind bei dem komplexen chinesischen Brettspiel Go eindrücklich bewiesen hat, zumindest auf diesem speziellen Gebiet. Selbst die größten Experten wurden von seinen Spielvarianten überrascht, die ihm niemand beigebracht hatte. Die KI wurde von der südkoreanischen Go-Vereinigung in den 9. Dan Professional eingestuft, für ihr „gottgleiches Spiel“. Das lässt uns dann schon erschauern ...