Seilschaften sind wichtig

Niemand gibt gerne sofort zu, dass er einer Seilschaft angehört. Der Begriff ist anrüchig. Warum eigentlich? Schließlich ist er in der Welt der Bergsteiger gebräuchlich und dort durchaus positiv belegt. Er steht für Kameradschaft – übrigens auch ein heutzutage eher mit spitzen Fingern angefasster Begriff. Er wird mit der Absicherung des Lebens in Verbindung gebracht, mit Sicherheit überhaupt, mit Verlässlichkeit. Wer einer Seilschaft angehört, kann gefährliche Wege gehen. Manche Pfade in den Bergen sind überhaupt nur in einer Seilschaft begehbar. Die Kameraden einer Seilschaft unterstützen sich gegenseitig. Sie müssen und können sich aufeinander verlassen. Deshalb wird auch nicht jeder in eine Seilschaft aufgenommen, Wildfremde schon gar nicht. Also, eigentlich eine gute Sache, so eine Seilschaft.

Dann ist irgendwann der Begriff aus der Bergwelt in die Berufswelt abgewandert. Man spricht auch in der Wirtschaft, in der Politik von Seilschaften. Und da wurde es plötzlich schwierig für den Begriff. Er bekam nach und nach ein „Geschmäckle“.

Die Mitglieder von Seilschaften verschaffen sich gegenseitig Vorteile, nicht immer legal, wird häufig unterstellt. Seilschaften kungeln, schanzen sich Aufträge zu, sprechen sich auf oft unlautere Weise ab. Seilschaften vertuschen, bewegen sich im Halbdunkel. Seilschaften schließen alle nicht Zugehörigen von ihren Pfründen, Privilegien und Vorteilen aus.

Interessanterweise finden diejenigen, die einer Seilschaft angehören, das eigentlich gut. Sie reden zwar nicht gerne drüber, aber sie wollen unbedingt dazugehören. Alle anderen, die nicht dazugehören, die finden diese Seilschaft schlecht, mindestens anrüchig. Ihren Mitgliedern werden von vornherein Unlauterkeit und Zwielichtigkeit unterstellt.

So viel zur Begrifflichkeit und zur Historie. Im Folgenden möchte ich das Phänomen der Seilschaft an sich untersuchen, ihre Grenzen und die Möglichkeiten, die sie eröffnen.

Vertrauen bindet stärker als Regeln

Seilschaften sind keine Organisationen. Seilschaften funktionieren weitgehend informell. Es gibt keine Statuten, keine Institutionen, keine Konten. Wann immer eines davon vorliegt, haben wir es mit einer Organisation zu tun, mit einem Verein, einer Firma, eine Sozietät, einer Partei oder irgendeiner anderen Form. Aber eben nicht mit einer Seilschaft. Seilschaften sind formlos. Oft werden Seilschaften mit den sogenannten Geheimgesellschaften, Orden oder Bruderschaften verglichen. Aber diese Vergleiche hinken, denn dort gibt es strenge Regeln, die niedergeschrieben oder zumindest in mündlicher Überlieferung verbindlich sind. In Seilschaften gibt es zwar auch Regeln, aber sie sind nicht explizit ausgedrückt, nicht in Form gebracht. Es ist ein unausgesprochener Verhaltenskodex, den jeder kennt (oder erahnt), über den aber niemand spricht. Wer dagegen verstößt, wird zukünftig gemieden. Das ist die einzige Sanktion.

In Seilschaften gibt es nur eine Währung: Vertrauen. Diese Währung hält die Seilschaft zusammen. Nur vertrauenswürdige Personen kommen in die Seilschaft hinein. Wer das Vertrauen der anderen verliert, ist draußen. Darüber wird üblicherweise nicht gesprochen, es wird nicht erklärt. Es passiert einfach. Entweder ist man im „Vertrauensraum“ der Seilschaft oder eben nicht.

Es ist dieser informelle Charakter, dieses nicht Sichtbare, der die Bindungskraft einer Seilschaft ausmacht, sie jedoch gleichzeitig mit einem Geheimnis umgibt und für Außenstehende verdächtig macht.

Seilschaften ändern ständig ihre Zusammensetzungen und inneren Strukturen. Auch das geschieht ohne formale Akte. Es folgt einerseits den Themen, die innerhalb der Seilschaft zirkulieren oder denen sie sich widmet, andererseits den äußeren Bedingungen, zum Beispiel den Machtverhältnissen in der Gesellschaft oder in dem Unternehmen, in dem die Seilschaft wirkt. Und die Zusammensetzung und die inneren Strukturen richten sich nach den involvierten Personen und deren Interessen.

Allerdings, und das ist wichtig zu verstehen, in Seilschaften sind die Zusammensetzung und die Strukturen nicht geformt, nicht institutionalisiert, meist noch nicht einmal klar sichtbar. Es gibt keinen Chef, es gibt lediglich mehr oder weniger starke Einflüsse Einzelner oder von Gruppierungen. Manchmal können sich Personen nicht einmal sicher sein, ob sie wirklich zur Seilschaft gehören, ob sie schon drin sind oder bereits wieder draußen.

Beziehung entsteht durch Beziehung

Wie kommt man eigentlich in eine Seilschaft hinein? Man kann ja nicht Mitglied werden, denn dafür müsste es formelle Verfahren geben, Register oder Mitgliederverzeichnisse. Man kann sich nicht bewerben, allein schon deshalb nicht, weil es in der Seilschaft keinen Personalchef gibt.

Es ist ganz simpel: Man wird mitgenommen. Man kennt jemanden, der jemanden kennt. Dieser Jemand ist der Meinung, dass die Themen, die in einem bestimmten Kreis diskutiert werden, zu dem er gehört, seinen Bekannten interessieren könnten, dass dieser vielleicht sogar dazu etwas Interessantes beizusteuern hätte. Dann kommt es zu Kontakten, man lernt Leute kennen. Über die Diskussion von interessierenden Themen baut sich Vertrauen auf. Nach und nach lernt man weitere interessante Leute kennen, die Beziehungen festigen sich. Und so gelangt man vom bloßen Kontakt nach und nach in den inneren Kreis. Man ist in der Seilschaft, ohne es vielleicht richtig zu bemerken. Einfach weil Vertrauen gewachsen ist.

Der Weg in eine Seilschaft ist keine Einbahnstraße, weil auch Vertrauensbildung keine Einbahnstraße ist. Vertrauen zwischen Personen entsteht und wächst nur wechselseitig. Nur wer vertraut, bekommt Vertrauen geschenkt (Ich habe diesen Mechanismus des Vertrauens- und Beziehungsaufbaus in meinem Buch „Die Sandwich Connection“, BusinessVillage, Göttingen 2016, ausführlich beschrieben). Umgekehrt verliert man seine Bindung in eine Seilschaft, indem Vertrauen schwindet. Auch das ist gegenseitig und setzt noch nicht einmal einen Vertrauensbruch voraus. Bereits nachlassendes Interesse an einem Thema oder an den Beiträgen einer Person zu diesem Thema schwächt die Beziehung und mindert Vertrauen.

Da Seilschaften keine formalen Institutionen sind, sondern reine Beziehungskonstrukte, ist Vertrauen die Bindekraft zwischen den Beteiligten, und Kommunikation, genauer der Dialog, ist der gestaltende Prozess.

Die eigene Seilschaft ist die Hohe Schule

Manchen Menschen widerstrebt es, auf Dauer davon abhängig zu sein, ob sie und wie weit sie in eine Seilschaft eingeführt werden. Sie entwickeln ihre eigene Seilschaft oder ihre eigenen Seilschaften. Beispiel: Sie kommen als Manager neu in ein Unternehmen, kennen niemanden und müssen sich ihr eigenes Netzwerk aufbauen, brauchen tragfähige Beziehungen, eine Seilschaft. Es geht dabei überhaupt nicht um die Organisationsstruktur, Stellenpläne, Verantwortlichkeiten, Berichtslinien oder ähnliches. Es geht nur um Vertrauen!

Wie schaffen Sie es, dass ihre zukünftige Seilschaft Ihnen vertraut?

Es ist ganz simpel: Sie gehen auf die Menschen zu, die Sie gerne in Ihrer Seilschaft hätten, und vertrauen ihnen, hören zu, bekunden Interesse. Das ist schon alles, was Sie aktiv tun können. Dann müssen Sie abwarten, ob Ihre Gegenüber auch Ihnen vertrauen, ob sie sich öffnen, Ihnen interessante und wichtige Dinge erzählen, Ihnen Tipps geben, Sie unterstützen oder Sie ihrerseits um Hilfe bitten. Und schon bildet sich Ihre Seilschaft. Dann können (und müssen) Sie sie pflegen, indem Sie interessante, vielleicht sogar vertrauliche Dinge über sich selbst erzählen, indem Sie Versprechen machen und einlösen, selbstlos andere unterstützen. So werden Sie vertrauenswürdig und nach und nach ins Vertrauen gezogen. Sie gewinnen einen Kreis verlässlicher Menschen, der Sie unterstützt, eben eine Seilschaft.

Andersherum gesagt: Sie können eine Seilschaft nicht definieren, erzwingen gar, Menschen „hineinverpflichten“ oder Abhängigkeiten erzeugen und nutzen. Gerade Letzteres wird unweigerlich eines Tages zurückschlagen, weil es Vertrauen bricht und damit die Grundlage einer sich gegenseitig unterstützenden Gemeinschaft zerstört.

Die Hohe Schule besteht gerade darin, eher nichts zu tun, eher passiv zu sein und eine zugewandte Präsenz zu entwickeln und zu zeigen, gepaart mit der aktiven Unterstützung bei konkreten Anliegen. Weil das alles eine reife Haltung verlangt, um nicht zu sagen: eine gewisse Selbstlosigkeit, bringen es nur wenige Menschen zur Meisterschaft in dieser Disziplin.

In Organisationen kann man ohne Seilschaft nicht erfolgreich sein

Mit Organisationen meine ich hier Unternehmen, politische Parteien, Verbände und Vereine, Kirchen und alle möglichen weiterhin denkbaren Zusammenschlüsse, in denen Menschen arbeiten und leben. Egal, um welche Organisation es sich dabei handelt und welche Position Sie darin bekleiden, welche Aufgaben Sie zu erfüllen und welche Verantwortung zu tragen haben, Sie brauchen Unterstützung.

Sie brauchen Unterstützung über das in Stellenplänen und sonstigem Regelwerk festgelegte Maß hinaus. Sie benötigen Unterstützung durch Informationen über Sachverhalte und Prozesse, vor allem aber über die Menschen, die in der Organisation eine Rolle spielen, welche Rollen sie spielen, über ihre Stärken und Schwächen, ihre Beziehungen zueinander und deren Historien. Sie müssen die Hintergrundthemen in der Organisation kennen, die dominierenden Erzählungen, die Tabus. Sie benötigen Unterstützung im Handeln, und zwar über das reine Müssen hinaus. Wenn Sie erfolgreich sein wollen, müssen Sie selbst über Grenzen hinausgehen, aber auch Ihre Unterstützer. Das tun sie nur, wenn sie es wollen, und zwar, weil sie Ihnen verbunden sind, sich Ihnen verbunden fühlen, Ihnen vertrauen. Darum geht es: um Vertrauen. Und darum, den Sinn im gemeinsamen Handeln zu entdecken.