Türkei - ähnlich und doch ganz anders!

Anfang Mai hatte ich Gelegenheit, mit einer Delegation des niedersächsischen Ministerpräsidenten die Türkei zu besuchen. Stationen waren Ankara, Konya und Istanbul. Für mich war diese Reise – wie auch ähnliche Delegationsreisen in andere Länder zuvor – eine Gelegenheit, die Auswirkungen unterschiedlicher Kulturen auf Unternehmen, auf die Art, sie zu organisieren und darin zusammen zu arbeiten, sowie auf den Umgang mit Veränderungsdruck und Wandel zu studieren. Dafür bietet die Türkei ausreichend Stoff.

Ich möchte in diesem Infobrief nicht auf die offensichtlichen Unterschiede in den Stadtbildern oder im Verhalten unserer Gastgeber, nicht auf das rasante Wachstum zum Beispiel in Konya, verbunden mit vielen Widersprüchen, und nicht auf sichtbare Rückstände im Automatisierungsgrad von Fertigungsstätten (die allerdings den Vorteil haben, mehr Menschen mit relativ einfacher Arbeit zu beschäftigen) eingehen. Eine Veranstaltung des Rahmenprogramms hat – so glaube ich – einen viel tieferen Blick auf die Unterschiede zwischen Orient und Okzident und zwischen den Menschen aus beiden Kulturen ermöglicht. Es war eine Aufführung der Tanzenden Derwische in Konya.


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Die Zeremonie, Sema genannt, fand im neu erbauten Kulturzentrum in Konya statt. Es mutet wie ein riesiges Zirkusrund an, in dem etwa 3000 Menschen Platz finden. Die Arena war gut gefüllt und trotz der abendlichen Stunde waren sehr viele Kinder anwesend. Entsprechend unruhig war es auch, was bei uns Westlern schon einmal etwas Befremden auslöste – schließlich sollte ja hier eine „heilige“ Zeremonie stattfinden. Die Einheimischen störte das aber offenbar überhaupt nicht.

Zu Beginn gab es eine lange Ansprache, in der ein würdiger Herr die Tradition der Sema erklärte und bei dieser Gelegenheit die Staatsführung pries. Diese Huldigungen wiederholten sich übrigens im Laufe des Abends, sogar in die traditionellen Gebete und Koranzitate wurden entsprechende Huldigungen eingebaut, wie mir ein türkischer Begleiter erzählte.

Die eigentliche Zeremonie begann traditionell mit einer Flöte. Nun ist der „Gesang“ einer Rohrflöte für westliche Ohren ungewohnt, was durch das Wissen, dass es sich bei diesem Lied um den sehnsuchtsvollen Ruf der menschlichen Seele nach Gott und nach Erlösung handelt, auch nicht besser wird. Mit der gefühlt nicht enden wollenden Fortdauer der Flötenmusik wurde der Unterschied in der Geduld zwischen westlichen Managern (einige Politiker waren auch dabei) und ihren orientalischen Gastgebern deutlich. Dieser Unterschied wurde in der Folgezeit noch deutlicher. Unter schier endlosen Verbeugungen (zumindest erschien das den ungeduldigen Westlern so) schritten die Tänzer in die Arena, umrundeten die Tanzfläche mehrmals, verbeugten sich vor ihrem Scheich und ließen sich nieder. In vollkommener Ruhe verharrten sie eine lange Zeit auf ihren Knien, was die Ungeduld unter uns westlichen Zuschauern weiter anwachsen ließ.

Dann endlich streiften die Tänzer ihre braunen Kutten ab, ließen damit symbolhaft ihr Ego fallen, und begannen den Drehtanz. Es war schon bewundernswert, wie sich die Männer – es handelte sich um völlig normale Männer unterschiedlichen Alters, Dünne und Dicke – dauerhaft im Gleichgewicht hielten. Sie folgten den für Außenstehende fast unsichtbaren Zeichen des Scheichs und des Zeremonienmeisters, die damit die Choreografie des Reigens bestimmen. Nach langem Drehen stoppten die Tänzer, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, schritten wiederum langsam und gemessen, sich verbeugend, am Scheich vorbei und danach begann das Ganze von Neuem. Als die dritte Runde begann, stöhnte hinter mir ein Mitglied der Delegation leise auf und fragte, wann das wohl enden wolle. Nebenbei bemerkt waren die Stühle, auf denen wir saßen, ziemlich hart. Ich drehte mich um und sah, dass es sich um einen türkischstämmigen Unternehmer aus Hannover handelte, der unser aller Pein ausdrückte. Die Einheimischen empfanden diese Ungeduld offenbar nicht. Sie verharrten auch bei den abschließenden langen Gebeten völlig gleichmütig auf ihren Plätzen.

Mir kam die Vermutung, dass unsere westliche Hast, der ja auch der türkischstämmige Unternehmer unterliegt, einfach nicht zu dieser ruhigen Zeremonie passt. Wir werden ungeduldig, sehnen das Ende herbei, weil wir noch Emails erledigen müssen und werden mit fortschreitender Zeit sogar ein bisschen aggressiv. Wir haben ein ganz anderes Gefühl zur Zeit und können deshalb bestimmte Feinheiten des Sema, wie zum Beispiel die Art der Steuerung der Zeremonie, überhaupt nicht wahrnehmen. Unsere Gedanken schweifen ab und beschäftigen sich voller Ungeduld mit den Problemen des vergangenen und des nächsten Tages. So wurde beim Sema regelrecht fühlbar, was wir gemeinhin mit dem Ausdruck „dort ticken die Uhren anders“ umschreiben. Ein interessante Erfahrung, wie ich fand. Zum Glück konnten wir danach wieder in unseren eigenen Takt verfallen. Bleibt die Frage, wie viel wir dabei in unserem Alltag übersehen, wie oft wir in unnötige Hast verfallen und wie oft aggressiver werden, als wir es eigentlich müssten.