Mit Regeln führen

Überall um uns herum: REGELN. Wir folgen ihnen, verletzen sie, umgehen sie, leiden unter ihnen oder profitieren von ihnen. Regeln sind so allgegenwärtig, dass wir häufig gar nicht mehr bemerken, wie sie unser Leben dominieren. Ein freiheitlich gesinnter Geist ist da leicht versucht, „weg mit den Regeln“ auszurufen. Aber einmal abgesehen davon, dass ein solcher Wunsch utopisch scheint, ist er vermutlich auch nicht sinnvoll. Menschen leben in sozialen Systemen, die sich strukturieren und regulieren, quasi autopoetisch. Auch ohne willentliche Vorgaben einzelner Menschen werden sich Regeln und Verfahrensweisen ausbilden, denen die Mitglieder des Systems folgen. Kriterium dafür ist das Überleben des Systems in seiner Umgebung. Auf natürliche Weise dauert diese Regelbildung relativ lange. Der willentliche Einfluss von Menschen bei der Regelbildung und -durchsetzung beschleunigt diesen Vorgang, führt aber andererseits auch dazu, dass bestimmte individuelle Interessen Eingang ins Regelwerk finden. Ob das im Einzelfall für das System und für die Betroffenen gut ist, stellt sich meist erst später heraus.

Wir haben es also mit einer sehr unübersichtlichen, weil komplexen, Gemengelage zu tun. Deshalb ist es sinnvoll, sich hin und wieder einmal einige Prinzipien von Regeln und Regelsetzung bewusst zu machen. Hierzu im Folgenden sechs Gedanken zur Hilfestellung:

  1. Regeln sind interessengeleitet
    Regeln haben immer einen doppelten Zweck, nämlich einen sichtbaren und einen unsichtbaren. Sichtbar sind die objektiven Ziele, die mit der Regel erreicht werden sollen, unsichtbar – zumindest meistens – sind die subjektiven Absichten, die von den Regelsetzern verfolgt werden. Tägliche Meetings zur operativen Steuerung der Produktion ermöglichen die effektive Lösung von Problemen (objektives Ziel). Gleichzeitig versucht der Chef, mit für ihn geringstem Zeitaufwand immer alle Informationen zu bekommen und seine Vorgaben anzubringen (subjektive Absicht). Dafür nimmt er vielfach in Kauf, dass im Meeting Leute sind, die aktuell gar nicht gebraucht würden und in der Zeit andere Dinge erledigen könnten. Die Lösung kann in variablen Agenden und variablen Teilnehmerkreisen liegen – das verlangt dem Regelsetzer mehr Denk- und Vorbereitungsarbeit ab.
  2. Keine Regel ohne Sanktion 
    Wenn man straffrei Regeln verletzen kann, wird das unter bestimmten Umständen genutzt, um sich das Leben einfacher zu machen oder zusätzlichen Nutzen zu ziehen. Wer beim Setzen einer Regel auf die Sanktion verzichtet oder nicht bereit ist, sie bei Regelverstoß tatsächlich anzuwenden, der kann sich die Regel sparen. Sie wird nicht funktionieren, auch dann nicht, wenn anfangs alle mit der Regel einverstanden waren und sie für sinnvoll hielten. Wenn anfangs alle pünktlich zu Meetingbeginn erscheinen, wird es im Laufe der Zeit zu Verspätungen kommen. Unpünktlichkeit kann leicht zur Gewohnheit werden, es sei denn, es wird wirkungsvoll sanktioniert.
  3. Regeln brauchen Macht, um sie durchzusetzen 
    Diese Macht kann unterschiedliche Gesichter haben. Es kann die Macht eines Einzelnen sein: Chef gibt die Regel vor oder steht entschlossen hinter ihr. Macht entsteht dadurch, dass alle (oder die Mehrheit) eine bestimmte Regel wollen. Macht steckt auch in den Sanktionsdrohungen. Die Kehrseite dieser Medaille ist, dass Regeln auch Macht schaffen. Die Kontrolleure der Regeleinhaltung, vielfach das mittlere Management, gewinnen aus dieser ihrer Rolle Macht über die anderen. Sie ziehen sie dann nicht (nur) aus ihrer Kompetenz, sondern aus dem Regelwerk. Die subjektive Absicht des mittleren Managements besteht in ganz vielen Fällen im Ausbau des Regelwerks. Das ist einer der Gründe für ausufernde Bürokratie.
  4. Regeln muss man erst brechen, bevor neue entstehen können 
    Wären Regeln nur durch die objektiven Ziele veranlasst, müsste man sie nicht brechen, sondern im Zuge logischer Gedankengänge verändern. Ziele oder Bedingungen eines Prozesses haben sich verändert, also lassen sich auf der Grundlage simpler Ursache-Wirkungs-Ketten neue Regeln finden und definieren. Aber so objektiv ist die Regelwelt nicht, auch nicht in Unternehmen. Stets sind irgendwo die subjektiven Absichten im Spiel, und sei es nur, dass sich Menschen an bestimmte Abläufe gewöhnt haben und sich nicht umstellen wollen. Und schon halten sie an den Regeln fest. „Das haben wir immer schon so gemacht“. Hier braucht es Regelbrecher, im besten Sinne des Wortes. Wenn diese allerdings nicht die nötige Macht haben, werden die alten Regeln bestehen bleiben.
  5. Regeln vorgeben oder verhandeln?
    Man kann Regeln vorgeben. Das ist die immer noch am häufigsten benutzte Form: Top-down. Daran ändert auch nichts, wenn die Vorgaben den Teams erläutert werden. „Herunterbrechen“ ist hier das beliebte, gleichsam verräterische Schlagwort. Man kann die Regeln auch verhandeln, mit offenem Ausgang. Zum Beispiel indem Chef nicht sagt „das machen wir soundso“, sondern die Frage stellt „Wie wollen wir das machen?“ Da kann sich möglicherweise eine gute Diskussion ergeben, die zu einer besseren Regel führt und zu akzeptierten Sanktionen. Das hat den Vorteil, dass die Regel meist länger hält und von mehr Menschen getragen wird. Sie wird intrinsisch.
  6. Regeln "von unten" beeinflussen
    Was kann man tun, wenn man als Mitarbeiter die bestehenden Regeln verändern möchte (glaubt verändern zu müssen), aber nicht über die dafür nötige Macht verfügt und im Unternehmen auch nicht die Kultur einer Regelverhandlung besteht? Es gibt das Konzept der konstruktiven Einflussnahme. Es ist zwar kraftraubend, wenn man immer wieder kritische Punkte anspricht, dazu konstruktive Vorschläge macht, jedoch nicht gehört wird. Aber es ist dies der einzige Weg, durch fachlich fundierte Vorschläge, ständiges Dranbleiben und die Suche nach Verbündeten vorhandene Regeln zu verändern. Je weniger subjektive Absichten man mit seinen Vorschlägen verfolgt, desto besser sind die Erfolgsaussichten.