Komplexität im Live-Gespräch

Frage: Kann man komplexe Probleme intuitiv lösen?
Antwort: 

Wir müssen erst einmal klären, was mit „intuitiv“ gemeint ist. Wenn ich mal alles Esoterische und Emotionale weglasse, meint intuitiv, dass man einfach probiert; dass man Lösungen anwendet, die einem aufgrund seiner Erfahrung einfallen. Voraussetzung ist, dass man in dem Feld, in dem das Problem angesiedelt ist, Erfahrungen hat. Das heißt: Menschen, die von nichts eine Ahnung haben, können auch nicht intuitiv arbeiten. Sie stochern im Nebel.

Intuition nährt sich aus solidem Wissen (nicht über die Lösung, sondern über die physikalischen oder gesellschaftlichen oder kulturellen Grundlagen des Gebiets, in dem das Problem angesiedelt ist). Neben solidem Wissen braucht es Erfahrungen beim Bewältigen ähnlicher Situationen. Und wenn das zusammenkommt, Wissen und Erfahrung, dann besteht die Voraussetzung für das Lösen komplexer Probleme. Und dann muss man auf dieser Basis gezielt und methodisch gekonnt probieren, denn es gibt überhaupt keine andere Möglichkeit, komplexe Probleme zu lösen, als eben intuitiv vorzugehen.

Frage: Wieso kann man komplexe Probleme nur intuitiv lösen?
Antwort:

Weil sie eben komplex sind! Hauptmerkmal von Komplexität ist Unberechenbarkeit, sowohl die Unberechenbarkeit des Problems als auch die Unberechenbarkeit der Lösung und die Unberechenbarkeit der Lösungsversuche. Wie soll man dieser Häufung von Unberechenbarkeiten denn mit Berechnung, sprich: Planung, beikommen? Das geht nicht. Also bleibt nur Intuition im gerade besprochenen Verständnis.

Frage: Aber wie unterscheidet sich denn dieses intuitive Vorgehen vom Stochern im Nebel?
Antwort:

Intuitive Vorgehen ist streng methodisch. Das wird oft missverstanden. Viele denken, intuitiv heißt planlos. Irrtum. Intuitives Vorgehen kalkuliert allerdings ein, dass man die Lösung nicht vorher weiß oder ausrechnen kann.

Deshalb muss man beim intuitiven Vorgehen zwei Regeln beachten.

Erstens: Man muss kleine Schritte machen, das heißt zum Beispiel, nicht zu viel auf einmal zu ändern oder die Ziele nicht zu weit zu stecken.

Zweitens: Man muss nach jedem Versuch genau prüfen, was herausgekommen ist, bevor man den nächsten Versuch macht.

Beides klingt simpel, wird aber häufig nicht gemacht. Man kann es auch anders ausdrücken: Die Basis intuitiven Arbeitens sind die Methoden Trial & Error und Iteration.

Frage: Kann man das allein, ohne Hilfe?
Antwort:

Es gibt verschiedene Arten von Hilfe. Unterstützende Hilfe in Form von Mitarbeit und Kooperation – die braucht man selbstverständlich. Anleitende Hilfe in dem Sinne, dass einem jemand die Lösung oder Lösungsschritte vorgibt – die wird nicht funktionieren, weil diese Person ja auch der Komplexität gegenübersteht und die Lösung nicht kennen kann; braucht man also nicht wirklich. Stärkende Hilfe, die einem Zuversicht vermittelt, wenn man feststeckt oder in Rückschlägen untergeht, die Impulse gibt – solche Hilfe ist nützlich und man sollte sie sich holen. Hierfür bietet sich Coaching an, oder noch besser ein Mentor. Letzterer hat im Unterschied zum Coach den Vorteil, dass er ähnliche Herausforderungen, denen wir heute gegenüberstehen, selbst erlebt hat. Wenn er es schafft, sich mit Vorgaben zurückzuhalten, verstanden hat, dass heutige Probleme heutige Lösungen brauchen und nicht die von gestern, dann kann seine Erfahrung gemeisterter komplexer Herausforderungen nützlich sein.

Frage: Was meinst du mit meistern?
Antwort:

Meistern heißt nicht, alles richtig zu machen oder immer Treffer zu landen. Meistern bedeutet, Dinge langfristig besser zu machen, weil die Summe der positiven Ergebnisse die der negativen übersteigt. Man kann es auch so sagen: Der Meister zeigt sich in der Überwindung der Niederlagen. Und da Komplexität immer auch zu negativen Resultaten führt, bleibt nur das Konzept des Meisterns. Das Konzept des Beherrschens funktioniert hier nicht. Komplizierte Situationen kann man beherrschen, komplexe nicht, weil sie immer in sich tragen, dass es auch genau anders sein kann, als vermutet, berechnet oder erwartet. 

Frage: Wie unterscheidest du kompliziert und komplex?
Antwort:

Die Unterscheidung von kompliziert und komplex ist in der Tat schwierig. Beides ist oft schwer zu durchschauen, aber es gibt einen entscheidenden Unterschied: Komplizierte Systeme sind trotz mitunter riesigen Umfangs immer deterministisch, folgen also strengen wenn-dann-Beziehungen und sind somit berechenbar, auch wenn das manchmal langwierig ist. Dagegen sind komplexe Systeme grundsätzlich unberechenbar, weil ihre Teile so miteinander interagieren, dass mit bestimmter Wahrscheinlichkeit Überraschungen entstehen müssen.

Die Uhr ist ein gutes Beispiel für kompliziert, aber berechenbar. Dagegen ist ein Billardspiel komplex, weil unvorhersehbar, obwohl es relativ einfach im Aufbau ist. Komplex ist nicht kompliziert, sondern beruht in der Regel auf einfachen Mustern, die sich allerdings bei der Anwendung überlagern und so zu Unvorhergesehenem führen.

Auch am Beispiel Golf lässt es sich illustrieren: Der Bewegungsablauf des Golfschwungs ist kompliziert, aber erlernbar und ziemlich genau zu beherrschen, das Golfspiel selbst ist komplex, weil da eben viele weitere Einflüsse herrschen und die unglaublichsten Sachen passieren können. Selbst der noch so exakt ausgeführte Golfschwung garantiert kein gutes Ergebnis. Ich weiß, wovon ich rede ...

Wir Menschen haben naturgemäß Schwierigkeiten mit diesen Begrifflichkeiten. Das liegt daran, dass wir für Komplexität kein Sinnesorgan haben. Komplizierte Dinge können wir messen, zählen, definieren. Komplexe Abläufe und Resultate können wir nicht fassen.