Was man in Brüssel über den Umgang mit Bürokratie lernen kann

Zunächst meine wichtigste Beobachtung: 

Die Europäische Kommission (auch bekannt als Juncker-Kommission) steht (nahezu) ausschließlich für den europäischen Gedanken. Sie erarbeitet Vorschläge zur Ausgestaltung Europas und des Regelwerks für ein vernünftiges und gedeihliches Miteinander der 27 Mitgliedsstaaten – aber sie hat nichts zu melden! Entscheidungen trifft der Europäische Rat, in dem alle Regierungschefs versammelt sind. Und dort steht Europa immer erst an zweiter Stelle, an erster Stelle stehen die 27 Einzelinteressen der Mitgliedstaaten. Und diese werden mit allen Tricks und bis auf die blanken Messer verfolgt. 

Der Ratspräsident Donald Tusk muss diesen divergenten Haufen zum Konsens – oder jedenfalls in die Nähe eines solchen – führen. Das trifft nicht nur auf die genannten Interessenskonflikte zu, sondern wird auch durch simple organisatorische Hürden erschwert. Zum Beispiel das Sprachproblem. Alle Unterlagen müssen in alle (24!) Heimatsprachen der Mitgliedsländer übersetzt werden. In allen Meetings muss in alle Heimatsprachen simultan gedolmetscht werden, und zurück. Man stelle sich das Durcheinander in den Dolmetscherkabinen vor. Dass das überhaupt nur annähernd funktioniert, grenzt an ein Wunder – dank eines Heers von mehr als 2.000 Übersetzern und Dolmetschern, allein beim Europäischen Rat.

Diese Abstimmungsprozesse innerhalb von Kommission und Rat und zwischen ihnen, auf den Ebenen der verschiedensten Arbeitsgruppen und Ausschüsse, in die ja von Zeit zu Zeit auch noch das Europäische Parlament in Straßburg involviert ist, sind von gigantischer Komplexität. Und an dieser Stelle schrillen bei mir alle Alarmglocken.

Das ist nicht beherrschbar, kann es niemals sein!

Man braucht sich nicht zu wundern, dass dabei mitunter komische Sachen herauskommen, wie eben die DSGVO. Diese Komplexität der Prozesse lässt sich vermutlich auch nicht nachhaltig reduzieren. Schließlich ist selbst ein ausgewiesener Wadenbeißer wie Edmund Stoiber nicht weit gekommen mit dem Bürokratieabbau. Die hohe Komplexität resultiert hautsächlich aus der Vielzahl der beteiligten Player und Interessensgruppen, die alle an den Prozessen beteiligt sind.

Man könnte nun diese Zahl reduzieren, also Länder aus der EU entfernen. Das geht natürlich nicht, denn das wäre dann nicht mehr Europa und der europäische Gedanke, der – und das ist mir in Brüssel auch wieder klar geworden – phantastisch ist und Garant unseres Wohlstands und Friedens. 

Ich habe mich dann gefragt, wo eine Chance zur Aufwandsreduzierung überhaupt bestünde. Wenn sich die Europainstanzen statt mit hunderttausend Problemen nur mit den 10 oder 20 wichtigsten Themen befassten, dann würde sich zwar an der Komplexität der Bearbeitungs- und Abstimmungsprozesse nichts ändern – geht ja nicht, wegen der vielen Beteiligten – aber die schiere Anzahl solcher parallel laufenden Stränge würde sich erheblich reduzieren. Also: Weniger Aufwand.

Priorisierung heißt das Zauberwort! Das bedeutet jedoch, dass alle anderen Probleme, die nicht Prio 1 haben, in den Ländern gelöst werden müssten. Ich bin überzeugt, die könnten das. Sie würden das auch wollen. Aber: Das bedeutet in Brüssel den Wegfall zigtausender Arbeitsstellen. Was Europa gut täte, aber nicht den Behörden und ihren vielen tausend Mitarbeitern. Und deshalb wird es nicht passieren, weil diese alle seit vielen Jahren und auch in der Zukunft natürlich emsig daran arbeiten, immer mehr Themen an sich zu ziehen. Das ist eine Gesetzmäßigkeit in Organisationen, die unweigerlich zu Bürokratie führt. Ich nenne es die organisationale Entropie. Das System bewegt sich in Richtung Verkrustung (in der Physik nennt man das den Kältetod).

Es gäbe natürlich ein Mittel dagegen. Irgendeine Macht müsste in Brüssel die Priorisierung durchsetzen. Das würde man dann Führung nennen. Aber diese Macht ist in Europa nicht sichtbar. Und nicht nur das, sie ist schlicht nicht vorhanden. Schlechte Aussichten! Meine letzte Hoffnung ist, dass die Macht von außen kommt. Um es mal ganz stark zu vereinfachen: Vielleicht zwingt Trump die EU zur Einigkeit. Und wenn der Druck von dieser Seite nicht reicht, dann kommt Putin dazu, verstärkt durch die Chinesen und durch die vielen Menschen aus Afrika. Und der IS und seine Ableger. Bedrohungen gibt es genug. Die Frage wird sein, ob es den Europäern rechtzeitig gelingt, gegen alle Partikularinteressen gemeinsam das Nötige zu tun.

In Unternehmen haben wir ja glücklicherweise in der Regel eine bessere Situation. Auch dort gibt es komplexe Abstimmungsprozesse, auch dort sind Führungsteams uneins und jeder verfolgt die Interessen seines eigenen Verantwortungsbereichs zuerst. Aber es gibt – meistens jedenfalls – Führung, ob durch eine Einzelperson, ein Gremium oder durch eine hochentwickelte Führungskultur innerhalb des gesamten Managements (Diese höchste Form haben wir bisher nur in einem Unternehmen zur Reife bringen können. Hat rund fünf Jahre gedauert. In anderen Unternehmen sind wir auf dem Weg dahin und voller Optimismus). Und diese Führung übt Macht aus und erzwingt die nötige Priorisierung. Deshalb funktioniert es – meistens jedenfalls.